: Pulverisierung der Kultur
Zu Besuch bei einer Buchrestauratorin
von GABRIELE GOETTLE
Angelika Starke, Dipl.-Restauratorin f. Buch und Grafik i. d. Preservation Academy Leipzig (PAL). 1962 Einschulung i. d. Ernst-Schneller-OS Mölkau, 1974 Abitur am Rudolf-Hildebrand-Gymnasium Markkleeberg. Praktikantin i. d. Restaurierungswerkstatt v. Wolfgang Wächter a. d. Deutschen Bücherei Leipzig. 1976 erfolgreicher Abschluss d. Lehre a. Facharbeiter f. buchbinderische Weiterverarbeitung. 1978–1982 Studium a. Museum f. Deutsche Geschichte, Fachrichtung „Restaurierung von Büchern u. Kulturgut aus Papier“. 1982 erfolgreicher Abschluss als Diplom-Restauratorin. Engagierte Teilnahme an den Fortschritten i. d. Restaurationswerkstatt u. a. d. Vervollkommnung reproduzierbarer Prozesse führen zu einem umfangreichen Methodenrepertoire. 1991 Umbenennung d. Werkstatt in „Zentrum für Bucherhaltung“ (ZFB). 1994 Ausstattung m. einer technischen Anlage zur Massenentsäuerung u. einer Papierspaltmaschine. Chefrestaurator Wolfgang Wächter verlässt auf Grund krasser Sparzwänge die Deutsche Bücherei und gründet 1998 das ZFB als eigenständigen Wirtschaftsbetrieb. Angelika Starke verlässt ebenfalls die DB u. folgt ihm als unverzichtbare Fachkraft nach, sie wird u. a. Bereichsleiterin der Abt. „Sonderarbeiten, Einzelstücke“ u. kümmert sich 2002 sehr um die bei der Hochwasserkatastrophe überfluteten Bücher. 2003 verlässt Angelika Starke das ZFB, das seit längerem betriebsinterne Spannungen hat. Sie folgt – zusammen mit vielen ihrer hochqualifizierten Kolleginnen – ihrem alten Lehrer Dr. Wolfgang Wächter in seine frisch gegründete Preservation Academy (PAL). Monika Starke wurde 1956 in Leipzig geboren, sie hat zwei Kinder und ist seit 1990 verwitwet. Ihre Mutter war Sekretärin, ihr Vater war Abteilungsleiter i. Rundfunk- und Fernmeldewerk Leipzig.
Die gesamte Literatur des 20. Jahrhunderts ist im Begriff, sich aufzulösen. Alles, was im Zeitraum von 1850 bis 1870 auf industriell hergestelltem holzhaltigem Papier gedruckt, geschrieben und gezeichnet wurde – also sämtliche Bücher und auch Tagebücher, Briefe, Akten, Plakate usw. –, wird unbenutzbar, strebt einem immer rascher fortschreitenden „Säuretod“ entgegen. Riesige Fichten- und Kiefernwälder wurden im Zuge der Industrialisierung abgeholzt, um unser kulturelles Gedächtnis auf Papier zu bannen, doch nun, wo die Pulverisierung dieses Papiers und akuter Gedächtnisverlust drohen, fehlt es an Tatkraft und öffentlichen Mitteln. Bereits in den 90er-Jahren zeichnete sich das Ausmaß der zukünftigen Katastrophe ab, damals hatten etwa 30 Prozent der Bibliotheksbestände Säureschäden, heute melden die Bibliotheken alarmierende Zahlen bis zu 70 Prozent. Man behilft sich mit Mikroverfilmung und Digitalisierung, um wenigstens ein benutzbares Ersatzmedium zu besitzen, und wenn die Mittel es erlauben oder welche eingeworben werden können, lässt man wertvolle und wichtige Druckwerke restaurieren und konservieren von ausgewählten Fachleuten.
Mit einer solchen Frau vom Fach sind wir heute an ihrem Arbeitsplatz verabredet. Sie ist Restauratorin mit einer mehr als 30-jährigen Berufserfahrung und arbeitet in der Preservation Academy Leipzig. Akademischer Direktor der PAL ist ihr ehemaliger Lehrer, Prof. Wolfgang Wächter, der unter Bibliothekaren als einer der besten deutschen Restauratoren bekannt ist und schon zu DDR-Zeiten einen Ruf in internationalen Fachkreisen hatte. Die PAL befindet sich sinnigerweise im „grafischen Viertel“, im Osten der Stadt. Das Viertel heißt deshalb so, weil dort vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg – bis zur Bombardierung 1943 – ein großes Bücherzentrum mit Verlagshäusern, Druckereien und Buchhändlern existierte. Heute sieht man hier vor allem Büro- und Geschäftshäuser, Häuser aus der Gründerzeit, Museen und ein paar verschont gebliebene Prachtbauten, wie beispielsweise das Leipziger Stammhaus des Reclam-Verlages, mit seiner schön verzierten gelben Klinkerfassade. Es wurde Anfang 2006 endgültig geschlossen. Und nebenbei bemerkt, natürlich ist auch die berühmte „Universal-Bibliothek“ vom Papierzerfall längst eingeholt. Vis-à-vis vom „Reclam Karree“, in der Kreuzstraße 12, residiert PAL in einem fünfstöckigen rosafarbenen Gewerkegebäude von 1922, und der Gedanke ist irgendwie wohltuend, dass es hier erfahrene Leute gibt, die das Schlimmste verhindern könnten.
Frau Starke empfängt uns sehr freundlich und führt uns ein wenig herum. Im Parterre befinden sich Werkstatträume und die modernsten Entsäuerungsanlagen zur Massenentsäuerung von Büchern und Archivalien, was ja eine der vordringlichsten Aufgaben ist. In chromblitzenden Behältern, die aussehen wie Sterilisatoren in einem Groß-OP, werden die Bücher in einem besonders schonenden Verfahren entsäuert. Mittels einer Entsäuerungslösung werden puffernde Substanzen ins Papier eingebracht, sie neutralisieren die zerstörenden Säuren und schaffen einen alkalischen Überschuss, der die Bücher und Dokumente für lange Zeit vor weiterer Zersetzung bewahrt. Es gibt sogar eine Anlage zur Rückgewinnung und Wiederverwendung des (unschädlichen) Lösungsmittels. Die Bücher müssen in keiner Weise demontiert werden, die gefürchteten Schäden wie auslaufende Stempel, Tinten, Tintenstifte usw. können so gut wie vollkommen vermieden werden. Auch farbige Einbände, Fotos, Folien und Goldschnitte bleiben unverändert. Allerdings können die bereits eingetretenen Schäden nicht rückgängig gemacht werden, das Buch verlässt die Anlage quasi im konservierten Erhaltungszustand und ist somit gerettet. Allein im März wurden hier 10 Tonnen Papier entsäuert, man sagt, über den Daumen gepeilt, dass zwei Bücher etwa ein Kilo wiegen. Akten ebenso. 10.000 Kilo sind also 20.000 Bücher. Die Bundesrepublik Deutschland hat einen Rahmenvertrag mit der PAL abgeschlossen, der umfangreiche Entsäuerungsleistungen für Archive und Bibliotheken der Bundesrepublik – Nationalbibliothek Leipzig, StaBi Berlin, das Geheime Preußische Staatsarchiv und das Marbacher Literatur-Archiv – über einen längeren Zeitraum vorsieht. Allein dafür werden hier jährlich 30 Tonnen Bibliotheksgut und 8 Tonnen Archivgut entsäuert. Seit Ende 2005 hat die PAL in Kooperation mit der russischen Nationalbibliothek auch in St. Petersburg ein Bestandserhaltungszentrum aufgebaut, ein weiteres in Polen folgt.
Frau Starke führt uns hinauf in den ersten Stock in die Restaurationsabteilung, durch lange offene Arbeitsräume, in denen die Restauratorinnen sich über die großen glänzenden Arbeitsflächen ihrer fahrbaren Metalltische beugen und vorsichtig etwas auseinandernehmen oder zusammenfügen. Sie deutet im Vorbeigehen auf schwere Pressen und hochgestapelte blaue Plastikbücherkästen, in denen das Kulturgut lagert. Es sieht aus wie in einer Buchbinderei und ein irgendwie vertrauter Geruch nach Papier, Leim und Lösungsmittel liegt in der Luft. In ihrem Arbeitsraum, den sie mit der Fotografin Anja Grubitzsch teilt, zeigt sie uns ein paar Einzelbände, für die speziell sie zuständig ist. Wir sind hoch erfreut, es sind zwei Bände des berühmtesten anatomischen Lehrbuches „De humani corporis fabrica“, das der flämische Arzt Andreas Vesalius 1543 drucken ließ. Diese erste genaue Darstellung der menschlichen Anatomie – ein ketzerisches Werk – begründete die wissenschaftliche Anatomie der Neuzeit. Es gab zahlreiche Nachdrucke, diese beiden sind von 1585 und 1614. Wann hat man so etwas schon mal direkt vor Augen?! Auch Frau Starke hat trotz langjähriger Routine die Leidenschaft für alte Bücher nicht verloren. Sie streicht über den stark angebrochenen dicken Einband und sagt: „Schimmel, einfach Schimmel, irgendwann ist es feucht geworden. Das Papier wird völlig instabil und zerfällt dann an diesen Stellen. Das wird jetzt erst mal Gamma-bestrahlt in Radeberg – da ist so eine Firma, die Lebensmittel bestrahlt, mit denen haben wir einen Vertrag –, so werden die Sporen abgetötet. Man kann das auch mit einem Pinsel und Radiermedium machen, muss aber dafür sorgen, dass man’s nicht einatmet. Früher waren wir ja hart im Nehmen, aber es hat sich herausgestellt, dass manche Schimmelpilzarten geradezu gefährlich sind. Eine Kollegin in der Universitätsbibliothek hat eine starke Schimmelallergie. Die hatte ja durch den Krieg, wo das Gebäude nur noch als Ruine existierte, schwere Wasserschäden in ihren Magazinen. Und auch wenn’s dann jahrzehntelang trocken und ruhig steht, sind die Sporen ja immer noch da.
Es geht ja nicht nur um den Säureverfall und den Tintenfraß, neben dem Schimmel haben wir auch Mäusefraß“, sie lacht, „manchmal sind die Bücher richtig angeknabbert. Die fressen Leder und Holz, oder sie polstern auch Nester aus … Manchmal sind es auch Silberfischchen, die sich an der Blattoberfläche entlangfressen, aber fast nur in neueren Büchern, Hadernpapier mögen sie nicht so. Dann gibt es noch Holzwürmer, die fressen sich durch Leder, Holzdecke, manchmal durchbohren sie das ganze Buch, um auf der anderen Seite weiterzufressen. Na ja, und wenn ich mir das dann ansehe, die Schäden, dann muss ich eben nicht nur wissen, wie sie verursacht wurden, sondern vor allem muss ich wissen, wie ich’s repariere. Ich habe mich ja spezialisiert im Lauf der Jahre auf historische Bücher, besonders auf Bucheinbände von Einzelstücken, also das mache ich wirklich gern. Wir haben zum Beispiel ein Chorbuch aus dem Jahr 1575 bekommen, ‚Pirna codex II‘, von der Universitätsbibliothek Dresden, die hat es als Dauerleihgabe von der Marienkirche Pirna. Es hatte einen schweren Kriegsschaden, Wasserschaden, und ist ziemlich groß. Das habe ich zur Gänze restauriert, ja.
Von diesem Chorwerk gibt’s mehrere Bände, einen anderen haben wir vor längerer Zeit mal restauriert, das hat damals Prof. Wächter gemacht, und ich habe den Einband gearbeitet. Diesmal habe ich alles alleine machen dürfen. Eine Riesenarbeit! Also, es werden überschlagen am Ende so 230 bis 250 Arbeitsstunden gewesen sein. Aber das kann bei unserem Stundensatz ja kein Kunde zahlen und deshalb sind unsere Chefs dann auch kulant, besonders bei so einem Objekt, mit dem man auch an die Öffentlichkeit treten kann …“ Sie zeigt uns auf ihrem Computerbildschirm, wie ein zerfledderter Buchkörper mit fadenscheinigen Notenseiten Schritt für Schritt zu einem kunstvoll nach Art der Zeit gebundenen und eingebundenen Buch wird, mit stabilem Papier und Schließen aus Messing. Ganz wunderbar. „Den Holzdeckeleinband im Stil des 16. Jahrhunderts, den wollte der Kunde ja so. Zum Schluss, nach dem Einledern, hab ich dann die Schließen angefertigt. Ich habe im Garten eine kleine Werkstatt, einen Schraubstock, eine Ständerbohrmaschine, und dann säge ich mir die Form zurecht und lege los mit meinen Feilen, zum Schluss wird’s poliert. Erst mal soll es glänzen. Aber sie sind kein Schmuck, sie sollen den Buchblock mit einem gewissen Druck zusammenhalten und das Buch so auch schützen. In vielen Bibliotheken sind die irgendwann mal alle abgemacht worden, leider, weil sie nicht richtig ins Regal passten und störten. Ich habe hier deshalb eine Kassette angefertigt zum Schutz.
Die Hauptarbeit bestand natürlich in der Behandlung der einzelnen Blätter, der eine Teil war mit Farben und der andere mit Eisengallustinte geschrieben. Diese Farbe hat unwahrscheinlich fest aneinandergehaftet, das Buch war wie ein Klumpen. Ich habe große Probleme gehabt, das voneinander zu lösen, habe natürlich die Pigmente analysiert, aber es half nichts, ich musste Seite um Seite mechanisch lösen. Und ein weiteres Problem gab es mit den Tintenfraßschäden, die runden Notenkörper sind zum Teil richtiggehend rausgefallen. Tintenfraß ist nur durch Entfernung der schädigenden Säuren und Eisenionen zu stoppen. Also, es war wirklich ein Totalschaden. Unter guten Lagerbedingungen können solche Bücher mit Hadernpapier, also vergleichbare Inkunabeln, die können 500 Jahre ohne sichtbare Alterserscheinungen überstehen. Aber hier hatte der Wasserschaden ganze Arbeit geleistet, sodass ich die 180 Doppelblätter – mit ihren Fragmenten – im Spaltverfahren stabilisiert habe. Das manuelle Spaltverfahren besteht kurz gesagt darin, dass auf das geschädigte Blatt von beiden Seiten ein mit Gelatine beschichtetes Spezialfilterpapier aufgetragen wird, sodass das Original sandwichartig eingebettet ist. Dann wird es gut gepresst, und das ist reine Erfahrungssache, wie fest und wie lange, es spielt alles eine Rolle, Raumtemperatur, Feuchtigkeitsverhältnisse. Und nach dem Pressen kann ich das Blatt problemlos in der Mitte spalten, ich ziehe die beiden elastischen Teile einfach vorsichtig auseinander. Ich muss dabei für einen gleichmäßigen Zug in 90 Grad zum noch geschlossenen Teil des Blattes sorgen. Und dann kann ich quasi jetzt von innen die Fehlstellen ergänzen. Und dann klebe ich mit Methylcellulose, die ist chemisch rein, ein sehr dünnes Japanpapier in die Mitte zur Stabilisierung. Danach schließe ich die Seite wieder, das mache ich natürlich am Lichttisch, denn ich muss sehen, dass die Passgenauigkeit ganz exakt ist. Dann wird das Blatt getrocknet, und nun muss ich ja meine Trägerpapiere mit der Gelatine wieder ablösen. Dazu lege ich sie in ein Enzymbad, denn die Enzyme bauen die Gelatine vollkommen ab, ohne sich auf den Kernkleber und die Zellulose auszuwirken. Anschließend werden die Enzyme in heißen Wasserbädern immobilisiert und zugleich werden alle Rückstände vom Original entfernt. Die Gelatine hat übrigens nicht nur die beschriebene Funktion, sie hat ja auch die vorzügliche Eigenschaft der Komplexbildner, das heißt, sie verbindet sich mit Eisenionen und eliminiert die Säure aus Eisengallustinten. Aber es funktioniert natürlich nicht jede Sorte. Zu DDR-Zeiten benutzten wir die Marke ‚Brillant‘, die war für den Bäckermeister, für den Tortenguss. Nach der Wende war es schwierig, eine gleichwertige zu finden unter den vielen Sorten, es gibt basisch hergestellte, sauer hergestellte, je nach dem, wie das Eiweiß aus den Knochen und der Haut und dem Zeug eliminiert wird. Es war wirklich ein Problem, eine Sorte zu finden, die funktioniert. Für dieses Chorwerk habe ich 12 Kilogramm Gelatine verbraucht.“ Sie lacht und deutet auf das Bild des fertigen Buches, „und dann kam nach dem vollständigen Trocknen zwischen Filzfliesen – damit es keine Spannungen gibt – noch die buchbinderische Arbeit. Und das ist einfach ein sehr schönes Gefühl, das man dann hat, wenn das Buch fertig vor einem liegt. Aber ich denke dann gleich an das, was unser Chef, Prof. Schäfer, immer gesagt hat, wir haben die Verpflichtung, vor allem an die Bestände zu denken. Und der Bestand besteht aus vielen Millionen von Büchern und nicht aus Inkunabeln im Kämmerlein, an denen ich ein halbes Jahr vor mich hin restauriere!
Allein hier in der Deutschen Bücherei Leipzig, die ja jetzt zusammen mit der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main den Namen ‚Nationalbibliothek‘ trägt, sind von, sagen wir mal, 10 Millionen Bänden mehr als die Hälfte schwer gefährdet. Das ist ja ein Kulturgut, das in Gefahr ist! Sie haben eine komplette Sammlung aller deutschsprachigen Veröffentlichungen, von 1913 bis heute, glaube ich, es gab ja dann auch das Gesetz der Pflichtexemplare. Sogar zur DDR-Zeit haben sich einige westdeutsche Verlage daran gehalten und uns ein Exemplar geschickt, so zum Beispiel der wissenschaftliche Springer Verlag, dessen damaliger Chef, Claus Michaletz, übrigens heute einer der beiden Geschäftsführer der PAL ist. Und ansonsten gab es eine Abteilung ‚Erwerbungen‘, wo mit wertvollen Devisen das Fehlende zugekauft werden musste. Und sie wissen, Nationalbibliotheken sind ja Präsenzbibliotheken zur Nutzung im Lesesaal, aber die Beanspruchung ist natürlich trotzdem groß. Und geschädigt sind Exemplare, die bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts gedruckt wurden. Bis zu dieser Zeit wurde ja viel auf Holzschliffpapier gedruckt, auch im Westen, auch in anderen Teilen der Welt. Bei uns in der DDR wurde bis weit in die 80er-Jahre hinein noch Holzschliffpapier für Bücher verwendet. Es ist ja ein ganz besonders preiswertes Papier, gerade auch für Taschenbücher und Tageszeitungen.
Das war das Problem von Anfang an: 1843 hat ein sächsischer Weber, Gottlob Keller, den Holzschliff erfunden und damit einen billigen Ersatzstoff, der sich ohne große Umstände industriell zu Papier verarbeiten ließ. Seit der Erfindung des Papiers wurde es ja aus Fasern, aus Hadern, handgeschöpft und umständlich erzeugt. Der Bedarf an Papier stieg rasant und da kam der Holzschliff gerade richtig. Aber so ein Maschinenpapier hat vollkommen andere Eigenschaften als ein Hadernpapier, zum Beispiel hat es eine Laufrichtung, das heißt, die Fasern sind ausgerichtet usw. Aber maßgeblich war die Leimung, mit der ein großer Anteil Säure ins Papier eindrang, man kann sagen, dass bereits beim Herstellungsprozess die zerstörerischen Substanzen ins Papier kamen. Und weil der Zerstörungsprozess autokatalytisch verläuft, wird beim Fortschreiben des Verfallsprozesses immer mehr Säure frei. Erst in den 80er-Jahren ist die Tatsache, dass das eine Zeitbombe ist, so allmählich ins Bewusstsein vorgedrungen.
Wir haben in der DDR schon früh die Spaltmethode praktiziert in unserer Restaurierungswerkstatt in der Deutschen Bücherei, ich hab das ja alles miterleben können, ich habe ja 1974 angefangen. Das ist übrigens das Verdienst von Prof. Wächter und Günter Müller von der Universitätsbibliothek Jena, dass sie das Papierspaltverfahren so gut entwickelt haben und so risikofrei wie möglich. Günter Müller hat es noch vervollkommnet und nannte das ‚Jenaer Spaltverfahren‘, weil er spezielle Hilfsmittel angewandt hat usw. Die Spaltmethode an sich, die stammt aus dem 19. Jahrhundert, da kam ein Grafikrestaurator drauf. Jedenfalls haben wir unter anderem bei uns Zeitungen gespaltet, also quasi so, wie ich das Buch bearbeitet habe, und wir haben die Trägerpapiere mit einer Anschmiermaschine beschichtet. In gewisser Weise haben wir schon Massenrestaurierung angewendet, so rationell wie möglich gearbeitet, und am Tag meinetwegen 200 Blatt geschafft, ja, mit der Hand. Also die Methode und Idee finde ich ausgesprochen elegant, nämlich von innen das Blatt zu stabilisieren, ohne ästhetische Veränderungen, wie sie durch äußere Schutzmaßnahmen immer auftreten. Aber es war ein Kampf zwischen Ost und West, man fand die Methode zu brutal – natürlich greift man ins Original ein, zerstört es auch, aber das muss der Arzt ja auch tun –, wir jedenfalls bringen die Krankheit zum Stillstand auf diese Weise. Heute ist die Methode vollkommen anerkannt. Wir waren schon die Vorreiter. Unser Chef, Prof. Wächter, hat sich immer sehr mit der Spaltmethode beschäftigt und mit dem Problem der Massenrestaurierung, die absehbar notwendig wurde und es ist ihm gelungen, die weltweit erste vollautomatische Papierspaltmaschine zu konzipieren und der schwäbische Maschinenbauingenieur Ernst Becker hat sie gebaut. Die Pläne, die waren ja schon zu DDR-Zeiten in der Schublade, und nach der Wende hatte ich immer die Befürchtung, dass mal eine Meldung kommt, im Westen haben sie jetzt so eine Spaltmaschine erfunden. Aber es ist dann relativ schnell gegangen, also in drei Jahren ist die Maschine gebaut worden und ich glaub 1994 wurde sie bei uns im ZFB, in der Deutschen Bücherei Leipzig in Betrieb genommen. Sie funktionierte sehr gut, man konnte praktisch die Blätter vorn reinschieben und hinten kamen sie restauriert wieder raus. Also wir haben es als reinen Segen empfunden und konnten uns manuell um andere Sachen kümmern, zum Beispiel um Bach-Autografen. Die schieben wir da natürlich nicht durch! Die Maschine dient ausschließlich der Massenrestaurierung. Also, wir haben immer versucht – und das kann ich so sagen, weil wir ja eigentlich ein Team geblieben sind –, den neuesten Stand der Technik zu garantieren, und deshalb wird es auch eine neue Papierspaltmaschine geben, das ist nur noch eine Frage des Geldes. Ja, und so ist es uns gelungen, eine richtiggehende Anlaufstelle für Bibliotheken und Archive zu werden.“
Sie führt uns zu einem Auftrag, der gerade in Arbeit ist. „Das sind Dokumente vom Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen, NS-Opfer-Akten und KZ-Akten. Das Papier ist in einem alarmierenden Zustand, schon lange, deshalb haben sie dort in ihrer Not laminiert. Deshalb entlaminieren wir jetzt im großen Stil, das ist ein Riesenaufwand, aber enorm wichtig, auch wegen der Zwangsarbeiterentschädigung, da müssen ja Originaldokumente nachgewiesen werden. Und das sind die Totenlisten aus Dachau, der verschiedenen Kommandos, das Totenbuch … Also alle Originale und Akten werden natürlich gerettet, entsäuert, von hinten stabilisiert. Sie sollen digitalisiert und dann in speziellen Konservierungskartons nur noch gelagert werden für kommende Generationen, nicht mehr benutzt.“ Sie zeigt bereits restaurierte Blätter: „Das ist Durchschlagpapier, und die Listen da sind auf normalem Papier. Es gibt zum Glück keine beschriebenen Rückseiten, sodass wir nicht spalten mussten. Pervers ist das, wie die Buch geführt haben. Über ihre Massenvernichtung! Also, was jetzt hier liegt, sind 3.571 Stück, und dafür haben wir 4 Wochen Zeit.“ Sie führt uns in einen Raum, in dem es stechend wie nach Pattex-Verdünner riecht. „Das ist das Lösemittel zum Entlaminieren, wir haben zwar einen Abzug, aber mit solch harten Bandagen muss da rangegangen werden. Das kann man wirklich am Tag nur eine Stunde aushalten.“ Wir fliehen lieber gleich und folgen ihr, vorbei an den blauen Bücherkästen. „Die haben wir hier abgestellt, einfach aus Platzgründen bis zur Bearbeitung, das ist von der Zentralen Landesbibliothek. Wir haben jetzt einen sehr großen Auftrag, die Magistratsbibliothek Berlin zu entsäuern.“
Wieder in ihrem Raum, sucht sie etwas: „Ah, hier, das ist auch eine interessante Geschichte“, sie reicht uns Fotos, „das sind Koscherkarten. Die steckte der Fleischer in seine Ware, um zu zeigen, dass dieses Fleisch nach den religiösen Vorschriften koscher ist. Die waren teils aufgerollt und zerfleddert, wir haben sie von einem unserer Kunden aus Israel, einem Sammler, für ihn habe ich auch schon Plakate restauriert. Wir hatten auch mal, das war noch zur ZFB-Zeit, einen Restaurierungsauftrag von Rabbi Feldmann, eine schöne alte hebräische Handschrift, sie war richtig zerbröselt. Vor zwei Wochen war der israelische Außenminister da … das muss ein ganz toller Mann sein, ich war ausgerechnet im Urlaub … Und der war ganz hingerissen. Wir haben ja von allem Fotos.“ Nun möchten wir auch noch wissen, was in der schwarzen Schachtel ist auf ihrem Tisch. Sie öffnet sie, entnimmt einige handbeschriebene Seiten aus vergilbtem dünnem Papier. „Das ist das Heiner-Müller-Archiv. Sehn Sie, da hat er zum Glück mit Bleistift geschrieben. Hier mit Tinte, das ist immer schwierig, und sehn Sie, da hat er was gezeichnet! Den Auftrag haben wir von der Akademie der Künste Berlin bekommen. Wir haben auch das Gästebuch der Akademie, aus der Zeit kurz nach dem Krieg, das war sehr interessant. Das hab ich auch gemacht, es war zerrissen und eben stark benutzt. Und dann habe ich noch den Günter Grass, mit Zeichnungen, ich weiß jetzt nicht mehr, welches Buch das ist, das fiel auseinander. Es war mehr oder weniger eine Fleißarbeit, nicht so spektakulär. Na ja, das ist so in etwa das, was ich hier so mache, was wir machen. Und dann mache ich auch schon mal Gutachten, Restaurierungskonzepte usw., und voriges Jahr war ich mit einer Kollegin in Taiwan, da haben wir für die Mitarbeiter der Nationalbibliothek in Taipeh eine Schulung durchgeführt zur Massenentsäuerung, mit Dolmetschern natürlich. 14 Tage war ich dort, das war wirklich sehr schön.“
Sie packt sorgsam die Blätter mit Heiner Müllers kleiner Handschrift wieder in die schwarze Schachtel. Der Kaffee in unseren Tassen ist kalt, so sehr haben wir ihn vergessen. Nun möchten wir noch etwas zu ihrer Biografie erzählt bekommen. Seufzend sagt sie: „Also meine Mutti war ‚Facharbeiterin für Schreibtechnik‘, das hieß in der DDR so. Sie war Sekretärin, aus dem Sudentenland vertrieben – aber darüber durfte ja nicht geredet werden in der Zeit. Mein Vater war Abteilungsleiter im ‚Rundfunk- und Fernmeldewerk Leipzig‘, er hatte mal Feinmechaniker gelernt, den Meister gemacht. Er war Aktivist, ganz brav. Sie haben diese kleinen Mikrofone hergestellt, die waren ja damals für die Radiorekorder. Also, beide Eltern haben gearbeitet, im Kindergarten war ich, in der Schule alles ganz normal, mein Bruder ist vier Jahre jünger als ich.
Eigentlich wollte ich Zahnarzt werden, ich habe aber nach der Schule keinen Studienplatz bekommen. Ich wollte unbedingt was Handwerkliches tun, dann bin ich zu verschiedenen Goldschmieden, war bei einem Notenstecher, habe mir Handwerksberufe angesehen. Ich fand aber nichts für mich. Mein Vater hatte eine Kollegin, die war Gemälderestauratorin, hatte sich autodidaktisch gebildet. Sie war Restauratorin in Schloss Mosigkau bei Dessau. Wir haben sie besucht, um uns zu informieren, sie hat mich aber belehrt, dass man eine bestimmte Vorbildung haben muss, Arbeiten musste man auch vorweisen usw. und sie gab mir den Rat: Versuchen Sie es doch mal in der Deutschen Bücherei, die haben eine interessante Werkstatt und restaurieren Bücher … Ich war natürlich verbittert.
Bin dann aber doch hingegangen mit meinem Vater. Und da hat der Chefrestaurator – der auch heute noch mein Chef hier ist – uns erklärt, es gibt weder eine Ausbildung noch gar ein Studium. So was gab’s damals nicht. Aber ich könnte ja einfach anfangen als Praktikant, mal sehen, wie ich mich anstelle“, sie lacht, „na und da bin ich dann sofort aufgenommen worden in die Werkstatt. Ich habe dann noch pro forma meinen ‚Buchbinder‘, also meine Berufsausbildung in ‚Erwachsenenqualifizierung‘ gemacht, das nannte sich damals ganz umständlich ‚Facharbeiter für buchbinderische Weiterverarbeitung‘. Da habe ich meine Prüfung mit Auszeichnung bestanden. Und dann hatte ich das Glück, dass ich unter den ersten Studenten sein konnte, die dieses neue Restaurierungsstudium machen durften am Museum für Deutsche Geschichte. Das ist leider 1989 mit untergegangen. Aber mein Diplom ist anerkannt worden vom Westen.
Ich muss sagen, Studium ist sicher so eine Seite, die wichtig ist, aber die Berufserfahrung ist schon das Entscheidende. Das Wissen, welche Methoden ich anwende und welche ich verwerfe, wie ich neue Lösungen finde, auch mit anderen gemeinsam. Das lässt sich nicht auswendig lernen, das steht nicht in Büchern. Oder die Sensibilisierung, ich kann zum Beispiel Holzschliff vorzüglich riechen, ja, überhaupt alte und übersäuerte Bücher. Wenn ich ein Buch aufschlage, das riecht. Schimmel riecht. Oder wenn ich in eine Bibliothek reinkomme, da gibt es ganz typische Gerüche, Bücher dünsten nämlich bestimmte Substanzen aus, je nach dem, wieweit und wodurch sie gefährdet sind. Jede Bibliothek riecht anders, hat einen ganz charakteristischen Geruch. Bei so einer Arbeit ist viel Gespür dabei für die Sachen, auch viel Gefühl … obwohl man das eigentlich auch nicht so laut sagen darf. Man kann das nur schwer vermitteln. Ich bin jedenfalls sehr froh, dass ich Ihnen das mal zeigen konnte hier, denn das Bewusstsein in der Öffentlichkeit muss immer wieder aktiviert werden. Es ist ja unser Kulturgut und das unserer Nachkommen, das vom Zerfall bedroht ist.“