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Archiv-Artikel

Ein Mann und seine Partei

LIBERAL Christian Lindner will die Freidemokraten „wiederaufrichten“ – mit neuen Gesichtern und Inhalten. Doch auch bei der Europawahl erstarkt wieder die Konkurrenz von der AfD. Lindner setzt auf Zeit. Aber hat er die?

Projekt 5 Prozent

■ Der Mann: Christian Lindner wurde, als die FDP noch mitregierte, eine steile Karriere vorausgesagt. Schon während seines Studiums saß er von 2000 bis 2009 im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Er war Generalsekretär der FDP in NRW und von 2009 bis 2011 auch im Bund. Heute steht er zwar an der Parteispitze, aber vor einer ungewissen Zukunft.

■ Das Amt: Am 7. Dezember 2013 wählten ihn die Delegierten mit 79 Prozent der Stimmen zum Nachfolger des Parteivorsitzenden Philipp Rösler. Er verspricht die „Wiederaufrichtung“ der FDP.

■ Die Wahl: Bei der Europawahl am 25. Mai stürzte die Partei weiter ab: 3,4 Prozent, minus 8 Prozentpunkte. Auch bei den gleichzeitig abgehaltenen Kommunalwahlen in zehn Bundesländern bricht die FDP ein. Selbst in den Hochburgen Baden-Württemberg und Sachsen liegt sie deutlich unter 5 Prozent.

■ Die Zukunft: Für Lindners nächste Bewährungsprobe kein gutes Zeichen: Bei der Landtagswahl in Sachsen am 31. August könnte die Partei ihre letzte Regierungsbeteiligung in einem Land verlieren. Zwei Wochen darauf stimmen Thüringer und Brandenburger ab.

AUS BERLIN UND DRESDEN MATTHIAS LOHRE

Der FDP geht es dem Umständen entsprechend gut. Sie lächelt, ihr Gesicht ist leicht gebräunt. Federnden Schrittes betritt sie den Saal. Schwarzer Anzug und weißes Hemd sitzen perfekt. „Jede Wahl“, sagt sie, „ist für die FDP auch eine neue Chance auf die Trendwende.“ Die Frage ist nur, wie viele Chancen die Partei noch überlebt.

Die FDP, das ist heute eine Ein-Mann-Partei. Die FDP ist Christian Lindner. Am vergangenen Montag posiert der Vorsitzende im Thomas-Dehler-Haus vor halb leeren Stuhlreihen. Nur wenige Medien interessiert, was er zu sagen hat zum neuesten Tiefpunkt, den 3,4 Prozent bei der Europawahl. Lindner beschwört „Empathie“ und „Leidenschaft“ der eigenen Leute. Die FDP müsse „Nervenstärke zeigen und das Drehbuch“ bis zur Bundestagswahl 2017 „ganz konsequent abarbeiten“.

Als habe er damit alle Überzeugungskraft verbraucht, erzählt Lindner zum Schluss noch eine Anekdote. Nach Wahlveranstaltungen seien Zuschauer auf ihn zugekommen. Sie hätten ihn gefragt: „Wieso haben Sie das, was Sie hier gesagt haben, eigentlich genau vor einem Jahr nicht in der Regierung umgesetzt? Hätten Sie doch tun können.“ – „Tja“, sagt Lindner und streckt die Arme aus, „was antwortet man da?“

Ja, was antwortet die FDP da? Warum soll heute jemand die am Boden zerstörte Partei wählen? Wer sich von den etablierten Parteien nicht vertreten fühlt, der macht sein Kreuz nicht mehr, wie noch 2009, bei der FDP, sondern bei der AfD, die am Sonntag mehr als doppelt so viele Stimmen errang. 800.000 Menschen, die vor fünf Jahren FDP wählten, sind am Wahltag einfach zu Hause geblieben. Die Freidemokraten erleben derzeit etwas Schlimmeres als Häme, Spott und Wut: allgemeines Desinteresse.

Deshalb hat Christian Lindner, 35 Jahre, einen der undankbarsten Jobs der deutschen Politik. Er soll die Freidemokraten, die die Bundesrepublik 45 Jahre lang mitregierten, vor dem Versinken in der Bedeutungslosigkeit bewahren. Doch wie genau soll das gehen?

1. Mai, Tag der Arbeit. Noch knapp vier Wochen bis zur Europawahlniederlage, die sich in Umfragen schon sehr deutlich abzeichnet. Lindner setzt sich in sein karges Vorsitzendenbüro. Der schwarze Schreibtisch ist leer, nicht einmal ein Rechner steht darauf. An der Zimmerwand lehnt ein gerahmtes FDP-Plakat: „Jetzt Fan werden“. Auch fünf Monate nach seiner Wahl hat sich der Parteichef nicht eingerichtet.

Von Köln bis Dresden, von Stralsund bis München muss Lindner Zweifler umstimmen, Ängstliche beruhigen und Gegner besänftigen. Bis zum Herbst hielten 93 Bundestagsabgeordnete und ihre 450 Mitarbeiter den Kontakt zwischen Berlin und den Wahlkreisen. Das Machtzentrum ist implodiert. Heute arbeiten hier, im Thomas-Dehler-Haus, nur noch 24 Menschen. Wenn die Partei es 2017 nicht zurück in den Bundestag schafft, hat Lindner erklärt, wolle er die Politik aufgeben. Der Druck auf den letzten sogenannten Hoffnungsträger der FDP ist gewaltig.

Lindner malt die Zukunft der FDP in hellen Farben. Gerade habe er im Foyer rund 300 Neumitglieder begrüßt. 3.500 seien es insgesamt seit der verlorenen Bundestagswahl. Klar, der Weg zurück in den Bundestag sei ein „Marathonlauf“. Aber schon ab Mitte der Legislaturperiode könne die Partei erste Früchte ihrer Arbeit ernten. „Und dann“, sagt Lindner und lehnt sich im Stuhl nach vorn, „kommen wir ins faszinierende Jahr 2017.“ Vor der nächsten Bundestagswahl werde sich eine von Schwarz-Rot entnervte Öffentlichkeit für die runderneuerte FDP interessieren. „Das wird ein öffentliches Aha-Erlebnis.“

2017? Im Jahr 2014 verharrt die FDP in Umfragen bei 4 Prozent. Immerhin: In den Monaten nach der Wahl im Herbst waren es noch 3 Prozent. Kämpft Ihre Partei gegen die Zeit, Herr Lindner? Er presst die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf. Unter der gleichmäßigen Gesichtsbräune zeigen sich Augenränder.

Die Angst vorm Professor und seinen Leuten

Lindner lehnt sich zurück. „Erst kommt die Frage: Womit sprechen wir die Leute an?“ Der studierte Politologe will mit Ordoliberalismus werben. Also mit dem Eintreten für eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung, in der der Staat einen klaren Rahmen vorgibt – für den Kapitalmarkt ebenso wie für marktbeherrschende Unternehmen wie Google. Die FDP bemüht sich, das zähe Image der kaltherzigen Klientelpartei abzustreifen. Sie will für Datenschutz und Bürgerrechte stehen. „Wir müssen wieder liberale Projekte haben“, sagt Lindner, „die waren ja leer.“

Ein liberales Projekt ist für ihn auch, sich fürs heftig umstrittene Fracking auszusprechen. Die Dauersubventionen für neue Solaranlagen und Windräder über die EEG-Umlage will er abschaffen. Natürlich darf der Klassiker im FDP-Portfolio nicht fehlen: weniger Steuern für die Mittelschicht, etwa durch einen Ausgleich der kalten Progression in der Einkommensteuer und höhere Tarifabschlüsse. Lindner will einen Spagat hinkriegen: Die FDP soll ihre Stammwähler halten und vom Parteiensystem Frustrierte gewinnen – ohne so aggressiv-ängstlich zu klingen wie die AfD.

Die AfD. Wer FDP-Funktionäre nach der neuen Partei fragt, erhält zwei Antworten. Die offizielle lautet: Wir kümmern uns nicht um die deutschtümelnde Truppe, unsere Konkurrenz ist Schwarz-Rot. Tatsächlich: Im Herbst zogen die meisten Wähler von der FDP weiter zur Union, 2,5 Millionen, und fast 600.000 zur SPD. Inoffiziell aber berichten Freidemokraten von ihrer Angst vor den Leuten um Ökonomieprofessor Bernd Lucke.

Seit die FDP sich 2011 in einem Mitgliederentscheid mit knapper Mehrheit für den Euro-Rettungsfonds ESM entschied, haben die Euroskeptiker in der Partei nichts mehr zu sagen. 430.000 Wähler verlor die FDP bei der Bundestagswahl an die AfD. Wären es nur halb so viele gewesen, hätte die Partei die Fünfprozenthürde übersprungen – und würde heute wohl noch mit der Union regieren.

Jedes fünfte AfD-Mitglied gibt an, früher Freidemokrat gewesen zu sein. Mit Hans-Olaf Henkel trat gar ein ehemaliger FDP-Freund bei der Europawahl für die neue Partei an. Die Frustrierten ziehen weiter zur AfD. Die FDP bleibt ratlos zurück. Denn die einflussreiche Gruppe der mittelständischen Unternehmer weiß, ein Ende des Euro wäre schlecht für ihre Geschäfte. Die Flucht in die Radikalität ist versperrt. Und nun?

„Wir hatten ‚radikal‘, ‚simpel‘ und ‚Spaß‘“, sagt Lindner lächelnd. „Jetzt probieren wir’s mit Inhalt.“ Er stockt. Er weiß, pointierte Sätze können sich schnell gegen den wenden, die sie aussprechen. „Das klingt jetzt, als wollte ich mich von Westerwelle abgrenzen.“ Doch er fängt seine Worte nicht ein, bevor er aufsteht, den Besuch verabschiedet und auf seinem Smartphone herumtippt. Er lässt den Satz einfach stehen. Bewusst.

Als Lindner FDP-Generalsekretär war, musste er einer skeptischen Öffentlichkeit erklären, warum die irrlichternden Parteichefs Guido Westerwelle und Philipp Rösler in Wahrheit kluge liberale Politik betrieben. Es nervte ihn. Ende 2011 schmiss er hin und ging zurück nach Düsseldorf. Als kurz darauf in Nordrhein-Westfalen überraschend Neuwahlen anstanden, hievte Spitzenkandidat Lindner seinen Landesverband auf spektakuläre 8,6 Prozent. Spätestens seither gilt der Wermelskirchner als Wunderkind. Im Dezember 2013 wurde er das, was er immer sein wollte: Vorsitzender der FDP. Oder wenigstens von dem, was von ihr noch übrig ist. Als Generalsekretär konnte Lindner hinschmeißen, ohne bei der Partei allzu sehr in Ungnade zu fallen. Heute muss er durchhalten.

Rösler, Daniel Bahr, Dirk Niebel, Patrick Döring: Die Parteivorderen hinterließen bei ihrem schmählichen Abgang im Herbst eine Lücke. Aber niemand vermisst sie. Mitten in der permanenten Überlastung dieser Monate ist das eine Entlastung für den Mann an der Spitze.

Lindner muss auf niemanden in der FDP mehr Rücksicht nehmen. Konkurrenten sind nicht in Sicht, und der starke alte Mann der Partei, Hans-Dietrich Genscher, unterstützt ihn. Die Partei weiß: Ihre Chancen auf eine Rückkehr in den Bundestag sind gering. Aber ohne Lindner sind sie gleich null.

Inmitten dieses Überlebenskampfs scheint sich auch ein merkwürdigen Gefühl der Freiheit einzustellen. Es ist die Freiheit von Menschen, die am Abgrund stehen.

Nicola Beer kennt diese Grenzerfahrung sehr gut. Die 44-Jährige lässt sich die Berliner Frühlingssonne aufs Gesicht scheinen, auf Perlenkette und Perlenohrringe. Sie sitzt vor einer Espressobar in Berlin-Mitte. Noch etwas Zeit, bevor sie in die Präsidiumssitzung muss, nebenan im Thomas-Dehler-Haus. Von kaum etwas hat Beer weniger als von der kostbaren Ressource Zeit. Trotzdem sagt sie zur Begrüßung: „Möchten Sie was essen? Frühstück ist wichtig.“

Nicola Beer, kräftige Stimme, breites Lächeln, soll Lindners „Wiederaufrichtungs“-Plan umsetzen. Die Partei will nicht nur mit veränderten Inhalten punkten, sie ist auch finster entschlossen, sympathischer und emotionaler zu wirken. Dadurch erhofft sie sich Zuspruch bei einer Wählergruppe, die sich bislang wenig für die FDP interessiert hat: Frauen. Nicht einmal jedes vierte Parteimitglied ist weiblich.

„Frauen“, sagt Beer ohne spürbare Ironie, „denken und arbeiten effizienter und schneller als Männer.“ Im Zweifelsfall schmierten die Mütter, nicht die Väter den Kindern morgens die Schulbrote. Frauen wollten die wirklich wichtigen Entscheidungen nicht erst nach den Gremiensitzungen fällen: „Die haben keine Lust, bis drei Uhr nachts an der Theke zu sitzen.“

Die Frankfurterin ist geschieden, ihre Zwillingssöhne sind 15 Jahre alt. Lindner hat die ehemalige hessische Kultusministerin zu seiner Generalsekretärin gemacht. Die beiden kennen sich seit fast zwei Jahrzehnten, beide waren bei den Jungen Liberalen. Sie duzen sich, teilen sich das karge Büro in der Parteizentrale. Ohnehin sind beide viel unterwegs, und die Partei muss sparen, wo sie kann. Für den Europawahlkampf standen nur 750.000 Euro bereit. Die Grünen gaben doppelt so viel aus.

Beer bereist das Land, weil selbst der eifrige Parteichef nicht überall sein kann. Sie muss Kontakt halten zu rund 5.000 FDP-Mandatsträgern in den Kommunen. Früher wurde die FDP verspottet als „Frau ohne Unterleib“: als bloße Regierungspartei ohne Basis und Inhalte. Heute ist ihr allein der Unterleib geblieben.

Beer soll die FDP weiblicher machen. Doch von einer Quote, wie sie Grüne, Linke und CSU eingeführt haben, hält sie nichts. „Wir sind keine arme, bedauernswerte Benachteiligtengruppe.“ Und sie fügt an, als erkläre das ja wohl alles: „Ich habe meine Kinder acht Jahre allein erzogen.“ Wer am Abgrund steht, macht sich keine Gedanken, ob seine Formulierungen jemanden vor den Kopf stoßen könnten.

Im Präsidium sitzen 13 Männer – und 3 Frauen

Ist also alles nur eine Frage des Willens? Hat, wer nicht alles immer allein perfekt auf die Reihe kriegt, sich nur zu wenig angestrengt? Beer selbst wäre heute wohl kaum Generalsekretärin, hätte sich das gesellschaftliche Umfeld in den vergangenen Jahren nicht gewandelt. Die „gläserne Decke“, die Frauen vom Aufstieg in Toppositionen abhält, wird durchlässiger – auch durch viel kritisierte Frauenquoten in Parteien und Unternehmen. Wo andere vorpreschten, zieht Lindners FDP nun widerwillig nach.

Gegen massiven Widerstand setzte der Parteichef Lindner auch durch, dass die weithin unbekannte Marie-Agnes Strack-Zimmermann seine Stellvertreterin wird. Mit der stellvertretenden Oberbürgermeisterin von Düsseldorf sitzen im 16-köpfigen Präsidium nun insgesamt drei Frauen. Das gilt als Fortschritt. Doch nur 22 Prozent derjenigen, die seit der Bundestagswahl in die FDP eintraten, sind Frauen. Die Partei wächst wieder, aber sie wird nicht weiblicher.

Beer spricht noch lange über die kommenden Erfolge der FDP. Über die besondere Ansprache von Frauen, deren Erfolge man „jetzt noch nicht sieht“. Beer redet vom „Aufbau, der aus der Fläche kommen muss“. Und über Pläne, Mitgliederentscheide online abzuhalten. Auf die Frage, wo denn die Frauen in der FDP seien, antwortet sie, in Versmold gebe es seit 20 Jahren eine Fraktionschefin. Es gibt noch viel zu tun. Dann muss sie rein ins Thomas-Dehler-Haus, zu Lindner und den anderen. Die FDP retten.

Die FAZ überschrieb ein Gespräch mit Lindner jüngst mit „Was macht eigentlich die FDP?“. Selbst die notorisch liberalenfreundliche Welt titelte: „Leben wir noch, und, wenn ja, wen interessiert das?“ Niemand scheint die implodierte Partei zu vermissen. Lindner macht sich und den Seinen mit Umfragen Mut. Denen zufolge halten 27 Prozent der Wahlberechtigten eine liberale Partei und 19 Prozent konkret die FDP für notwendig. Doch in Umfragen liegt sie bleiern unter 5 Prozent.

Deshalb hat Lindner die Parole vom „Marathonlauf“ ausgegeben. Vom langen Lauf bis zum „faszinierenden Jahr 2017“, in dem eine runderneuerte Partei auf eine neugierige Öffentlichkeit treffen werde. Es ist eine verklausulierte Bitte um Geduld. Doch Geduld ist keine Stärke von Lindners engstem Verbündeten. Er droht, sein ärgster Gegner zu werden.

Bundesparteitag in Dresden, Anfang Mai. Wolfgang Kubicki tut, was er am liebsten tut. Er zeigt sich. Die Arme vor der Brust verschränkt, steht der Parteivize vorm Saaleingang und redet mit Journalisten. Wer der Partei bei der „Wiederaufrichtung“ zusehen will, muss an ihm vorbei.

Kubicki blickt sich um. Früher richtete die FDP die opulentesten Parteitage aus. Die Ausstellerhalle war voller Stände von Autoherstellern, Zigarettenkonzernen und Pharmafirmen. Heute ist sie halb leer. Sponsoren suchen den Kontakt zur Macht. Bei der FDP finden sie ihn nicht mehr. Früher gab es für Journalisten in einer eigenen „Lounge“ exquisites Gratisessen. Heute steht vorm Messeeingang eine Bretterbude für alle. Bratwurst 3 Euro, große Bulette 3,50 Euro. Mit Brötchen.

Der Parteivize hat selten eine Gelegenheit ausgelassen, seine Parteifreunde öffentlich zu kritisieren. Früher zielte sein Spott auf Westerwelle und Rösler. Heute beharkt er sich mit Lindner. Der Parteichef ist für Fracking – Kubicki dagegen. Kubicki kann sich vorstellen, Atomkraftwerke länger als bis 2022 laufen zu lassen - Lindner nicht. Kurz vorm Parteitag lässt er sich zitieren mit Sätzen wie: „Auch beim Marathonlauf braucht man Zwischenstationen, an denen man Wasser tankt. Wahlen sind solche Stationen, wo wir uns Energie in Form von guten Ergebnissen holen müssen. Deshalb liegt die Benchmark für mich bei 5 Prozent.“

Diese Hürde hat Christian Lindner gerade bei der Europawahl gerissen. Man kann ihn jetzt schon als angeschlagen betrachten. Ein halbes Jahr nach seiner Wahl kämpft er nicht nur gegen das schwindende Interesse der Öffentlichkeit. Sondern auch gegen wachsende Unzufriedenheit in den eigenen Reihen.

In Dresden beim Bundesparteitag hält er seine erste große Rede seit seiner Wahl zum Parteichef. Im Publikum sitzt Westerwelle. Der einst schier Allmächtige trägt keine Krawatte, dafür einen Dreitagebart. Es ist auch ein Signal an Lindner und die Partei: Ich komme nicht wieder.

Christian Lindner muss hier die Frage beantworten, wofür die FDP gerettet werden muss. Hier – und überhaupt. Wie immer redet er weitgehend frei. Über das Verhalten der Kanzlerin gegenüber den USA in der NSA-Affäre: „Das nenne ich Feigheit vor dem Freund.“ Über die kalte Progression: „Wolfgang Schäuble bereichert sich am Lohnplus der Facharbeiter.“ Und über die Ukrainekrise: „Wer aufhört, miteinander zu sprechen, fängt irgendwann an, aufeinander zu schießen.“ Lindner redet, als gelte das Wort des FDP-Chefs noch etwas in der Welt. Dabei überträgt nicht mal der öffentlich-rechtliche TV-Sender Phoenix, der keine Quote fürchten muss, die Rede live. Die „Wiederaufrichtung“ findet abseits der Öffentlichkeit statt.

„Hat keine Sau interessiert“, sagt Kubicki

Lange hat die FDP getan, als seien ihre wahren Konkurrenten SPD und Union. Viel Feind, viel Ehr. Jetzt redet Lindner zum ersten Mal ausführlich über die wahre Konkurrenz der FDP: „Die AfD sagt ‚Mut zu Deutschland‘. Ich sage ‚Mut zu Europa‘.“ Die betont adrett auftretende Partei setzt er mit den Rechten gleich, die Ende der 80er Jahre kurze Zeit das Land erschreckten: „In Wahrheit ist das Republikaner reloaded.“ Der Realitätsschock erreicht die FDP in Wellen. Acht Monate nach ihrem Abstieg findet sie sich langsam damit ab, dass sie nicht mehr in der ersten Liga spielt. Sondern mit den Schmuddelkindern.

Zum Schluss ruft Lindner den Delegierten zu: „Man kann nicht kämpfen, wenn man die Hosen voller als das Herz hat. Deshalb lasst uns ein volles Herz haben!“ Indirekt bescheinigt Lindner sich und den Seinen damit, die Hosen zumindest relativ voll zu haben. Die Abwandlung des Müntefering-Worts „Lieber heißes Herz als Hose voll“ lässt die Delegierten trotzdem applaudieren. Zum Schluss gibt es pflichtgemäß stehenden Beifall, danach Mittagessen.

Wie fanden Sie die Rede, Herr Kubicki? Er blickt den Frager misstrauisch an. „Gut, nur zehn Minuten zu lang.“ Gab es Ärger wegen Ihres Streits mit dem Parteichef über Fracking und Atomkraftwerke? Kubicki guckt in den halb leeren Saal, dann in die halb leere Ausstellerhalle, und sagt: „Es hat keine Sau wirklich interessiert.“

Nach der Bundestagswahl stand die FDP am Abgrund. Nun ist sie einen Schritt weiter gegangen. Sie weiß nur noch nicht, in welche Richtung.

Nach seiner Rede verlässt Christian Lindner das Podium und geht nach draußen. Er schüttelt ein paar Hände, dann kauft er sich eine Bratwurst mit Brötchen. Er küsst seine Frau und setzt sich mit ihr etwas abseits auf Klappstühle. Niemand folgt ihm.

Matthias Lohre, 38, ist Reporter der taz