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Archiv-Artikel

Weltgeflüster

NACHRICHTEN Vieles, was vor zehn Jahren gemeldet wurde, klingt seltsam aktuell. All Around The World, am Dienstag, den 2. Januar 2001. Eine Textcollage

Alem Grabovac

■ Stationen: Grabovac wurde 1974 als Sohn einer Kroatin und eines Bosniers in Würzburg geboren. Er studierte Philosophie, Psychologie und Soziologie in München, London und Berlin. 2009 erschien sein erster Roman „Der 53. Brief“ (Perlen Verlag Berlin). Die vorliegende Textcollage besteht aus Nachrichten, die den Autor an seinem 27. Geburtstag erreichten. Sie ist Bestandteil seines neuen Romans. Grabovac lebt in Berlin.

■ Silvester: „Wie feiern Sie?“ – „Ich werde in meiner Stammkneipe in Prenzlauer Berg mit meinen Freunden bis in die Morgendämmerung hinein trinken und tanzen und tanzen und trinken.“ Foto: Wolfgang Borrs

VON ALEM GRABOVAC

Im Folgenden eine Auswahl der Nachrichten, die am 2. Januar 2001 im Fernsehen zu sehen, im Radio zu hören und im Internet und den Tageszeitungen zu lesen waren:

Nahost-Krise nach Anschlägen verschärft. Barak öffnet das Anschlagserie versetzt Manila in Angst. Nach den tödlichen Sprengstoffanschlägen auf den Philippinen ermitteln Polizei und Militär gegen Mitglieder verschiedener Muslimrebellen-Gruppen. Die chinesische Polizei hat am Neujahrstag mit einem Großaufgebot eine Demonstration der Kultbewegung Falun Gong brutal aufgelöst und mindestens 700 Anhänger festgenommen. Lotto – Die Gewinnzahlen: Zusatzzahl 46 und die Superzahl 4 (ohne Gewähr). Das Jahr 2000 hat uns zurückgeworfen auf elementare, beinahe altmodische Erfahrungen, beispielsweise, dass man pflanzenfressende Lebewesen nicht ungestraft mit Tiermehl verfüttern darf.

Noch mehr Nachrichten: laute Töne. Der junge Präsident ließ einen neuen Text dichten, aber verfasst hat ihn ein alter Mann, der schon Stalins Hymne geschrieben hatte. „Russland, unsere heilige Macht“, werden Schulkinder wie Fußballer fortan schmettern. Neuanfang im Zeitalter des Netzes. Trotz der Pleiten des letzten Jahres: Die New Economy wird zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor. Auch wer brav auf Auto, Stahl oder Chemie gesetzt hat, auf Werte der Old Economy also, musste mitleiden, denn die schlechte Stimmung schwappte vom Risikomarkt auf den allgemeinen Markt über. Das Motto lautet: Mehr weniger Sicherheit. An der Elfenbeinküste provoziert Präsident Gbagbo den Bürgerkrieg, weil er seine Konkurrenten von der Wahl ausschließen will. In Simbabwe sichert sich Präsident Mugabe mit Schlägertruppen die Macht. Zehn Jahre Bürgerkrieg in Jugoslawien. Experten gegen das therapeutische Klonen. Die Herstellung und Nutzung menschlicher Embryonen als Rohstoff überschreitet eine ethische Grenze. Werbung: Mit HSCSD (High Speed Circuit Switched Data) das Büro nach draußen verlegen. Im mobil surfen. Golfstaaten schließen Verteidigungspakt, um einer möglichen Bedrohung durch den Irak oder Iran zu begegnen. Teilnehmerstaaten des Gipfeltreffens waren Saudi-Arabien, Oman, Kuwait, Katar, Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate. Der Missbrauch eines Jungen in einem Internierungslager in Australien löst eine Diskussion über den Umgang des Landes mit Flüchtlingen aus. Die Hölle im Paradies.

Immer mehr Nachrichten:

Mord in der Neujahrsnacht. Drei afghanische Asylbewerber bei Unfall getötet. Silvester endet in einer Feuerkatastrophe. Die ganze Welt eine Party. Riesenfeuerwerke in allen Kontinenten und ein Silvesterfest im All. In Berlin feierten ungefähr eine Million Menschen rund um das Brandenburger Tor. Etwa eine halbe Million Menschen bejubelten am Times Square in New York das neue Jahr. Am Millennium-Monument in Peking wurde ein Schauspiel aus Licht und Farben in den Himmel gezeichnet. In Paris blinkte der Eiffelturm blau. An der Copacabana in Rio de Janeiro wurde Samba getanzt und in Malaysias Hauptstadt Kuala Lumpur sprangen 15 Mann von den höchsten Bürogebäuden der Welt in das neue Jahr hinab. Mit Scherzen über Alkoholkonsum hat die erste Langzeitbesatzung an Bord der Internationalen Raumstation ISS das Neujahrsfest gefeiert. Fernsehprogramm: Adelheid und ihre Mörder, Der achtzehnte Engel, Universal Soldier – Blutiges Geschäft, Deadworks – Heiß und tödlich und Insel der Piraten. Den lieben möchten Wissenschaftler in den USA: Den unwirtlichen Mars in einen lieblichen Planeten verwandeln. Dazu müsste er zunächst künstlich aufgeheizt werden – etwa mit einem Spiegel. Das dürfte Jahrhunderte dauern. Ob die Menschheit so viel Geduld aufbringt?

Und immer wieder Nachrichten:

Das Web hilft der Politik. World Wide Web. Dotcom-Industrie. Deregulierung. Privatisierung. Altersvorsorge. Strategien für einen gesicherten Private Rentenversicherungen. Die Preise an den Weltrohstoffmärkten haben sich im Jahr 2000 nicht nachhaltig erholt, obwohl die Vorräte in weiten Bereichen knapper wurden. Rund um den Globus beendeten fast alle wichtigen Aktienindizes das Jahr 2000 mit Verlusten. Frankfurt-DAX: 6.433,61. Hongkong-Hang-Seng: 15.095,53. London-FTSE 100: 6.222,50. New York-Dow Jones: 10.788,75. Tokio-Nikkei 225: 13.785,69 Punkte. Wohin fliegen Romario, 34, Fußball-Nationalspieler, wechselt doch nicht zu Inter Mailand. England, Premier League, 21. Spieltag: Newcastle United – Manchester United 1:1, Arsenal London – FC Sunderland 2:2, Ipswich Town – Tottenham Hotspurs 3:0, Manchester City – Charlton Athletic 1:4. Spitze: Manchester United 21 Spiele/47 Punkte, 2. Arsenal 21/39, 3. Ipswich 21/37.

Nachrichten und immer wieder Nachrichten:

Es war einmal in Afrika. Thailand, Malaysia, Singapur und die Road to Mandalay in Birma. Die Nächte in Südostasien sind grünschwarz und laut, aber unendlich friedlich für den Passagier im Eastern & Oriental Express. 10 Prozent Einölen in Dubai. Über 60 individuelle Rundreisen. Sie wollen verschwinden – Wie wäre es mit Beim europäischen Labor für Teilchenphysik, dem Cern im Genf, wird der Beschleunigerring LEP nach zehn erfolgreichen Jahren im November abgeschaltet. Genomforscher entschlüsseln zunehmend den Code des Lebens. Nerven aus Blut züchteten Stammzellforscher in Mäusen. Neuroprothesen lassen einige taube Menschen wieder hören und einen Blinden wieder sehen. Naturkatastrophen nehmen weiter zu: Nach Angaben der Münchner Rück ist ihre Zahl auf über 850 gestiegen – 100 mehr als im Rekordjahr 1999. Die Klimakonferenz der Vereinten Nationen scheitert. Der von Tschernobyl geht 16 Jahre nach dem größten Unfall in der Geschichte der Kernenergienutzung vom Netz. Herz aus Hirn, Nerven aus Blut und umgekehrt: Die Stammzellforschung soll solche Gewebeverwandlungen möglich machen. Als besonders vielversprechend gelten dabei embryonale Zellen.

Und noch viel mehr Nachrichten:

An der Einsetzung eines internationalen Strafgerichtshofes für die Verfolgung von Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird nun kaum mehr zu rütteln sein. Papst fordert den Kulturen. Große Erwartungen, dürftige Ergebnisse. In Marokko endete das zweite Jahr unter der Führung des jungen Königs mit dem Verbot dreier unabhängiger Zeitungen. Neues Führungspersonal kommt allenfalls aus der Familie Gaddafis in Gestalt seiner beiden Söhne. Jahresbestseller Sachbuch 2000: Der Weg zur finanziellen Freiheit; Die Kunst, über Geld nachzudenken; Aktien für Einsteiger; Geld tut Frauen richtig gut; Wölfin unter Wölfen; Führen, Leisten, Leben und Sag ja zum Erfolg! Das Wetter: Berlin, Schauer, 5; Buenos Aires, sonnig, 33; Caracas, heiter, 33; Hongkong, wolkig, 21; Jakarta, Gewitter, 31; Mexico-City, Regen 20; Lagos, wolkig, 32; New York, wolkig, -2; Peking, wolkig, -6; Melbourne, heiter, 37; Riad, Rio de Janeiro, stark bewölkt, 30; Teheran, wolkig, 12; Tel Aviv, wolkig, 20 und Tokio, wolkig, 11 Grad.

Das waren die Weltnachrichten am Dienstag, den 2. Januar 2001.