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Archiv-Artikel

Dem Leben hin gebaut

ARCHITEKTUR Inspirierend: das Werk von Lina Bo Bardi, das in einer Ausstellung im DAZ zum 100. Geburtstag der italienischen Architektin gewürdigt wird – und die Schau selbst, die die Architektur sinnlich erfahrbar macht

Bo Bardi betrachtete ihre Architektur nicht als Endprodukt des Planungsbüros, sondern als einen Prozess, der auf der Baustelle fortgeführt und vollendet wird

VON BRIGITTE WERNEBURG

Weil wir Listen doch so sehr lieben: Frank Lloyd Wright, Hans Poelzig, Adolf Loos, Bruno Taut, Erich Mendelsohn, Le Corbusier, Gerrit Rietveld, Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe, Richard Neutra, Hans Scharoun, Richard Buckminster Fuller, Alvar Aalto, Louis I. Kahn, Konrad Wachsmann, Arne Jacobsen, Giuseppe Terragni, Egon Eiermann, Oscar Niemeyer – all die nennt Wikipedia als die wichtigen Architekten des 20. Jahrhunderts, bis mit den 1970er Jahren die Zäsur der Postmoderne einsetzt. Frauen bauen nicht. Auch und gerade nicht in dieser weltweit wohl meistgenutzten freien Enzyklopädie.

Frauen kümmern sich um die Küche wie Margarete Schütte-Lihotzky oder die Möbel wie Lilly Reich, Ray Eames, Charlotte Perriand und Eileen Gray. Keinem einschlägigen Museum und keiner Forschungseinrichtung aber war es ein Anliegen, etwa Charlotte Perriands schon spektakulären und nie ausgeführten Entwurf einer Berghütte aus Aluminium und Holz aus dem Jahr 1934 zu realisieren. Das passierte erst 2013, und dazu brauchte es ausgerechnet den Luxusgüterfabrikanten Louis Vuitton und die Art Basel Miami Beach. Wie Eileen Gray mit ihrem Haus E.1027 verschwand auch Perriand lange Zeit hinter der mächtigen Figur von Le Corbusier, der Grays Haus übrigens gerne mal als seinen eigenen Entwurf ausgab.

Unter diesen Umständen alles andere als erwartbar, wird nun Lina Bo Bardi 2014, im Jahr ihres 100. Geburtstags, international vorgestellt und ihr Werk in Erinnerung gerufen. Lina Bo Bardi? Wie ihre oben genannten Kolleginnen hat auch sie Möbel entworfen. Und wie viele Möbel ihrer Kolleginnen sind auch ihre Entwürfe Klassiker geworden. Dass sie in Europa nicht so richtig bekannt sind, liegt vor allem daran, dass ihre Urheberin in Brasilien arbeitete (wo Lina Bo Bardi auch 1992 verstorben ist); aber auch daran, dass es keine Serienproduktion gab. So existiert ihr berühmter Bowl Chair von 1951 bislang nur als Prototyp. Nun aber hat sich der italienische Möbelhersteller Arper aufgemacht, die halbkugelförmige Sitzschale, die in eine vierbeinige Ringstruktur aus Metall eingehängt ist, zu realisieren. Aus diesem Anlass sponsert Arper auch die Ausstellung „Lina Bo Bardi: Together“, die nun – nach London, Wien, Zürich, Paris und anderen Hauptstädten Europas – in Berlin im Deutschen Architektur Zentrum (DAZ) Station macht.

Anders als die erwähnten Kolleginnen hat die 1914 in Rom geborene Achillina Bo, die 1946 den Galeristen, Kunstkritiker und Journalisten Pietro Maria Bardi heiratete und mit ihm nach Brasilien emigrierte, große Bauvorhaben realisiert. Etwa ihr Museum für Moderne Kunst der Stadt São Paulo, MASP (1957 bis 1968), dessen Inneres nicht weniger spektakulär ist als seine kühne äußere Gestalt, hängen doch die Exponate nicht wie gewohnt an der weißen Wand, sondern an transparenten Glasstelen. Oder zwei Sakralbauten, die sie in den 1970er Jahren realisierte – wobei zu erwähnen ist, dass gerade diese Bauaufgabe kaum jemals an eine Frau vergeben wird.

Dass Bo Bardi jemals bauen würde, war nicht von Anfang an ausgemacht. Zwar fand sie, als sie ihr Architekturstudium 1939 mit dem Entwurf eines „Geburtshauses für unverheiratete Mütter“ abgeschlossen hatte, schnell Anschluss an die Mailänder Architekturszene, doch typischerweise arbeitete sie dann eher journalistisch über Architektur, statt mit deren Planung beauftragt zu werden. Der bekannte Architekt Gio Ponti etwa übertrug ihr 1943 die Leitung der legendären Architektur- und Designzeitschrift Domus. Bauten von Bo Bardi in Italien gibt es nicht.

Erste Bauten in Brasilien

Diese Geschichte Lina Bo Bardis lernt der Besucher im Eingangsbereich des DAZ auf den Tafeln mit biografischen Informationen kennen. Erst das Wohnhaus, das sie nach ihrer Ankunft in Brasilien 1951 in São Paulo baute, wird in der Ausstellung ausführlich in bewegten und unbewegten Bildern vorgestellt. Das konstruktiv extrem minimalistische Haus, dessen Glaswände und dünne Betondecken zierliche Stahlstützen tragen, wurde als Casa de Vidro, also Glashaus, schnell berühmt und etwa von dem Schweizer Architekten und Designer Max Bill ob seiner Eleganz gerühmt.

Neben der Casa de Vidro, heute Sitz des Instituto Lina Bo e P.M. Bardi, das das kreative Erbe des Paares verwaltet, konzentriert sich die Ausstellung auf Bo Bardis letzte Schaffensperiode von den späten 1970er bis zu den 1990er Jahren. Dabei zeigt sich der kritische Blick der erfahrenen Architektin auf die Architektur, sei es im praktischen oder im theoretischen Sinne. „Mittel standardisieren, um den Bereich des Möglichen zu erweitern, damit etwas, das nur für wenige da ist, für viele erreichbar wird“, begründete sie etwa ihr Zugeständnis an das Paradigma des industriellen Bauens. Ansonsten aber betrachtete sie ihre Architektur nicht als Endprodukt des Planungsbüros, sondern als einen Prozess, der auf der Baustelle fortgeführt und vollendet wird. Ihr Ziel war eine „arme“ Architektur der Schlichtheit und der sozialen Verantwortung. War schon ihr Bowl Chair nicht als Luxusobjekt modernen Designs gedacht gewesen, sondern als erschwingliches, flexibles Möbel, das sich in jede Umgebung harmonisch einfügt, verzichtete sie zuletzt auch darauf und erkundete das Hässliche und dessen Potenzial als konstruktive Designkritik.

Pars pro Toto hat die Kuratorin (und Architektin) Noemi Blager zwei Projekte in den Mittelpunkt ihrer Ausstellung gerückt: das 1962/63 entstandene Museum für moderne Kunst Solar do Unhao in einer ehemaligen Zuckerfabrik in Salvador de Bahia und den 1982 realisierten Umbau einer großen Fabrikanlage in das Sport- und Kulturzentrum SESC Pompéia in São Paulo. Dabei arbeitet Blager nicht wie bei Architekturausstellung ansonsten üblich mit Modellen, Aufrisszeichnungen und Fotografien, sondern mit einer filmischen Installation, die plastische Objekte und wenige Möbel von Lina Bo Bardi einbegreift. Es geht weniger um die Dokumentation als die sinnliche Erfahrung von Architektur. Die Installation will es dem Besucher ermöglichen, die Gebäude in ihrem urbanen und sozialen Kontext zu erleben. Ähnlich wie Lina Bo Bardi selbst ihn erfuhr, der bei ihrem ersten Besuch des Standorts des SESC in São Paulo vor allem die Straßenszenen und Nachbarschaften auffielen, wie sie in ihrem „Literarischen Lebenslauf“ berichtet.

Unterstützt wird Naomi Blager bei ihrem Vorhaben durch den Filmemacher Tapio Snellman, der in mehreren Videos das Straßenleben in São Paulo, die selbstverständliche, rege Nutzung des SESC Pompéia und das tropisch-transparente Innenleben der Casa de Vidro genauso festhält wie einen von Madelon Vriesendorp geleiteten Workshop im Solar do Unhao. Die dabei entstandenen Puppen und weitere Gegenstände finden sich in den Vitrinen der Ausstellung und erinnern an Lina Bo Bardis intensive Beschäftigung mit brasilianischer Handwerkskunst. Dazu hat Vriesendorp, Mitbegründerin des OMA Office for Metropolitan Architecture von Rem Koolhaas, Figuren aus Karton und Schaumstoff erschaffen, die von einer afrobrasilianischen Gottheit namens Exu inspiriert sind, und Papierhände, die den Besuchern mit Zetteln voller Bo-Bardi-Zitate den gedanklichen Weg weisen.

In ihrer sehr subjektiven, dabei unaufwendigen und stark auf künstlerische Verfahren abhebenden Anlage ist die Schau „Lina Bo Bardi: Together“ ein durchaus bedenkenswertes Modell für Architekturausstellungen. Besonders angesichts von Lina Bo Bardis erst im Alltagsleben und -gebrauch vollendeter Architektur. Freilich ist diese inspirierende Inszenierung auch ebenso anspruchsvoll. Besucher, die Leben und Werk der Architektin, Journalistin, Professorin und Bühnenbildnerin Lina Bo Bardi überhaupt einmal kennenlernen wollen, werden zusätzliche Informationen bemühen müssen.

■ „Lina Bo Bardi: Together“: DAZ, Köpenicker Str. 48/49, Mi.–Fr. 14–19 Uhr, bis 17. August