: Ostsee oder Nordsee?Ostsee
SOMMER Kreidefelsen, sanfte Dünen, kaum Gezeiten. Oder: das Watt, hohe Wellen, Ebbe und Flut. Wer in Deutschland ans Meer will, muss sich entscheiden
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Antje Wagner, 40, ist Schriftstellerin. Zuletzt erschien ihr Thriller „Vakuum“
Was wäre ein Geschenk ohne Verpackung? Ohne diesen Übergang von Wünschen zu Wissen, diese Barriere zwischen außen und innen? Denken Sie sich eine Insel. Sie heißt Gotland. Im Meer gibt es Algenwälder, die so tief wie Kirchen hoch sind, an den Ufern ragen Steine empor, geformt wie Schattenrisse bizarrer Träume. Orchideen wachsen aus Gestein, winzig, doch stark genug, Kälte, Kargheit und Schafen zu trotzen. So eine Insel! Vor der Eiszeit, heißt es, gab es an Gotlands Stelle eine andere Insel, eine tropische, die untergegangen ist. Heute findet man in jedem fünften Stein ein Fossil und läuft über tausend kleine Echos, flüsternde Stimmen auf Fußhöhe, nur durch eine Sohle von der Haut getrennt und doch Millionen Jahre entfernt. Wenn Gotland ein Geschenk wäre, dann wäre die Ostsee ihre wie Pailletten glitzernde, kilometerlange Verpackung. Gischt schwämme wie Baiser darauf, gezuckertes Weiß. Können Sie sich das Geschenk ohne Verpackung denken? Was wäre Gotland ohne Ostsee?
Feridun Zaimoglu, 49, Schriftsteller und Künstler, lebt und schreibt in Kiel
Wenn ich auf Lesereise in Großstädten bin, fragen mich die Menschen: „Wie halten Sie es in Kiel aus?“ Wenn etwas so nahe liegt, dass man gar nicht darüber nachdenken muss, kommt man ins Stottern. Und Stottern, das ist schon ein Liebesbeweis – in meinem Fall an die Ostsee. Ich kann es immer gar nicht fassen, dass man die Ostsee nicht kennt, nicht liebt. Die Ostsee ist nicht die ruhige, harmonische Pfütze, für die sie viele halten. Sie ist ein raues Wasser. Man muss sie wie ein Tier im Sturm brüllen gehört haben, um sich zu verlieben. Dann aber liebt man auch ihren Geruch: Die Ostsee riecht nach Möwenschiss. Es gibt bei uns weniger Hippies als an der Nordsee, wo sie ihren Mädchen auf der Gitarre Lieder vorzupfen. An der Ostsee schwärmt man schöne Frauen anders an: Indem man zeigt, dass man so zielgenau spucken kann, dass man die Möwe im Sturzflug ins Auge trifft. Das macht die Mädchen kussfreudig.
Volker Altwasser, 44, war Matrose und ist Schriftsteller. Er lebt in Rostock
Wer mein Hochsee-Epos „Letzte Fischer“ gelesen hat, weiß, was ihm entgeht, wenn er nicht an der Ostsee wohnt. Dem ist nichts hinzuzufügen, außer dass die Landschaft an der Nordsee Ödnis ist, das Wattlaufen nervt, der Regen zu oft quer kommt und Gezeiten nur verkappte Diktatoren sind. Ich wohnte mal ein Jahr auf Sylt. Jeden Tag sehnte ich mich nach der „Milde“, wie man die Ostsee nennt. Nach ihren uralten Buchenwäldern, ihrer Güte und Demokratie. Und nach den Altberliner Lobeshymnen, von denen die Luft auch im Herbst noch erfüllt ist. Hier vergeht den Berlinern reihenweise ihr Zynismus.
Andreas Altmann, 64, Reiseautor, schrieb zuletzt „Verdammtes Land“
Die Nordsee liegt links, die Ostsee rechts. Links hat Störtebeker sein Unwesen getrieben, rechts der Bundespräsident schwimmen gelernt. Ich mag beide Männer, also fifty-fifty. Die eine Hälfte Liebe blüht da, die andere dort. Die Entscheidung kam, als ich Dietmar K. traf. Ein Republikflüchtling, der in einer Sommernacht 1970 angstgebeutelt und todesmutig den Arbeiter-und-Bauern-Staat verließ. Und im schwarzen Faltboot über die schwarze Ostsee ins nichtsozialistische Ausland floh. Wo er bei null anfing und eine Computerfirma hochzog. Dabei ein Sozi blieb, der noch immer, jeden Tag, die Freiheit liebt. Und ein Freund wurde. Hoch lebe die Ostsee.
Nordsee
Günter Kunert, 85, Dichter und Essayist, lebt bei Itzehoe zwischen den Meeren
Hier in Kaisborstel, nicht weit von der Nordseeküste, bin ich, der geborene Berliner, „tu Huus“. Frische Luft, salzgesättigt, vom steten Wind gekühlt, mit frischem Fisch erfreut. Touristen lieben es, im Watt in Lebensgefahr zu geraten, weil sie nicht mit dem Rückkehrtempo des Meeres gerechnet und wir ja Rettungshubschrauber haben. Nichts beruhigt die Nerven so, wie von einem Platz auf dem Deich Ebbe und Flut zu beobachten – dieses zeitlose Bewegtsein jenes Elements, das wir einst unvorsichtigerweise verließen.
Judith Arlt, 56, Schriftstellerin und Übersetzerin, betreibt das Blog „Am Wattenmeer“
Wer nie das Watt knistern hörte, nie zähflüssigen Schlick zwischen den Zehen spürte, nie bei Seichtwassertide Löffler pendeln sah, der hat etwas verpasst. Über die Strömungsrippeln auf dem trockengefallenen Meeresboden können wir hinauslaufen, bis die Erdkrümmung hervorkommt, das Hinterland jenseits des grünen Deichs Kopf steht und die Weidenbüsche im Kronenloch vergeblich dem ablandigen Wind widerstehen. Statt Sand lieben wir Schafe. Sie halten die Grasnarbe kurz und bewahren unsere Häuser vor Überflutungen. Wir bewundern die Raspelzunge der Wattschnecken, den Orientierungssinn lichtscheuer Sandlückenbewohner und Seelavendel, der die kompliziertesten Salzdrüsen der ganzen Schöpfung besitzt! Wer nie über Treibsandteppiche floh, nie die Ekstase der Austernfischer bei der Jagd auf Herzmuscheln erlebte, nie in einer Vollmondnacht bei Springhochwasser nackt in der Nordsee badete, der hat noch etwas vor im Leben.
Nora Paschke, 27, sonntaz-Leserin, hat unseren Streit per E-Mail kommentiert
In den Jahren, in denen ich in Kiel gelebt habe, erfuhr ich, dass die Menschen dort anders ticken. Ich habe mich noch nie so viel über das Wetter unterhalten und hatte noch nie so wenige Menschen, mit denen ich mich unterhalten konnte. Außer übers Wetter. Wenn Sie das vermeiden wollen, fahren Sie lieber nach Sylt. Auf die Insel, wo die Reichen und Schönen wohnen. Wo jeder, der dort aufgewachsen ist, schon einmal Günther Jauchs Rasen gemäht hat. Wo es so wenig Einwohner gibt, dass keine Hebammen mehr gebraucht werden. Wenn ich mich in den Zug setze, in Westerland aussteige und mir salzige Meerluft in die Nase steigt, dann fühle ich mich freier, lebendiger. Klar – es gibt dort die Reichen. Aber es gibt auch Menschen, die einfach Urlaub machen. Die sich beim Aldi Chipstüten kaufen, sich abends mit einem Bier an den weißen Sandstrand setzen, die Sonne beim Untergehen beobachten und mit etwas Glück eine Schweinswalflosse im Meer erspähen.
Volkmar Nebe, 54, Roman- und Theaterautor, schreibt auch als Janne Mommsen
Wer ein echtes Meer mit Wellen will, die mit gewaltigem Rauschen an den Strand branden, kann nur die Nordsee meinen. Wer hier mit dem Boot immer weiter fährt, landet auf einem anderen Kontinent. Bei Ebbe kann man lange auf dem Meeresboden wandern, man ist dann der höchste Punkt weit und breit – und unter dem riesigen Himmel doch winzig klein. Die Gezeiten haben alle Bewegungen des Menschen seit Jahrtausenden unberührt gelassen, sie sind eine Hotline zur Ewigkeit. Gedanken kommen hier in andere Umlaufbahnen, klare Meeresluft flutet den Körper. Das setzt Kräfte frei. P.S.: Man kann auch auf dem Boden der Ostsee wandern. Aber nur, wenn man einen Taucheranzug oder ein U-Boot besitzt.