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Archiv-Artikel

Bei Pommes zeigt die Ampel rot

In vielen Haushalten ist das Wissen über gesunde Ernährung verloren gegangen

AUS GELSENKIRCHENCLAUDIA KÖNSGEN

Ein Mal die Woche ist Gewichtskontrolle. Bei 36,6 Kilo bleibt für die neunjährige Victoria Lorek der Zeiger der Personenwaage diesmal stehen. Den Wert trägt die Drittklässlerin aus Gelsenkirchen dann in ein Rechenheft ein, gleich daneben noch ihre Größe: 136 cm. Vicki ist normalgewichtig. Zwei Jahren zuvor, als „Obeldicks“, das einjährige Therapieprogramm für übergewichtige Kinder in der Kinderklinik Datteln, gerade anfing, sah das noch anders aus. Mit ihren sieben Jahren wog sie schon 40 Kilo, und das bei einer Größe von 123 cm. „Da musste sie Hosen in Übergröße oder von der Schneiderin genäht tragen, weil sonst alles zu eng saß und nichts kaschierte“, erinnert sich ihre Mutter, Violetta Lorek. Inzwischen trägt Vicki sogar Röcke.

Um ihr Gewicht zu halten, machen die Loreks, angespornt durch Vickis Erfolg bei der Ernährungstherapie, nun bei Weight Watchers mit, denn die Neigung zu Übergewicht liegt in der Familie. Anstelle des Schoko- und Kekstellers stehe heute beim gemeinsamen Fernsehgucken die Obst- und Gemüseplatte auf dem Tisch, sagt Violetta Lorek. „Aber leer geputzt wird auch die.“

„Kinder essen häufig zu viel, zu süß und zu fett“, benennt Hilde Schmitz-Krahm vom Gesundheitsamt Köln die Hauptursache für Übergewicht bei Kindern. „Viele von ihnen sind Bewegungsmuffel, sie verbringen zu viel Zeit vor Computer oder Fernseher“, so die Gesundheitsbeamtin. In 40 Jahren werde jeder zweite Deutsche adipös, das heißt fettsüchtig sein, prognostiziert sie. Schon heute sei jedes fünfte Kind und jeder dritte Jugendliche in Deutschland übergewichtig, sieben Prozent der Kinder adipös. „Und 45 Prozent der adipösen Kinder werden zu dicken Erwachsenen“, warnt Schmitz-Krahm.

In Nordrhein-Westfalen allein sei die Zahl der übergewichtigen und fettsüchtigen Kindern bei ihrer Einschulung in den letzten zehn Jahren um etwa 20 Prozent angestiegen, sagt Erika Sievers, Ärztin für Kinder- und Jugendmedizin am Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (LÖGD) NRW. Um einen weiteren Anstieg zu vermeiden, möchten Kinderärzte, Ernährungswissenschaftler, Krankenkassen und der Sportbund NRW mit Projekten wie „Obeldicks“ den Fettzellen übergewichtiger und adipöser Kinder zu Leibe rücken.

„Obeldicks“ wird von den Krankenkassen bezahlt. Das sei wichtig, um auch die unteren sozialen Schichten zu erreichen, die häufig von Übergewicht betroffen sind, erklärt Kinder- und Jugendarzt Thomas Reinehr, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter. Er hat „Obeldicks“ vor sieben Jahren zusammen mit seinen KollegInnen vom Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund entwickelt und führt das Programm in Datteln durch.

Voraussetzung für die Teilnahme ist der Wunsch der Kinder und Jugendlichen, abzunehmen. „Aber nur diejenigen, die wirklich ihr Verhalten in Bezug auf Ernährung und Bewegung ändern wollen, sind hier richtig“, betont der Arzt. Damit das Programm Erfolg hat, werden Kinder in einem achtwöchigen Probedurchlauf mit „eingebauter Motivationsprüfung“ getestet.

Vicki wollte abnehmen. Bevor sie mit „Obeldicks“ anfing, war sie 24 Prozent über dem Normalgewicht Gleichaltriger. Ein rundes Gesicht, Doppelkinn und kräftige Arme und Beine zeugten davon. An diesem Punkt angelangt, entschieden sich Violetta und Miroslaw Lorek, beide in der Gastronomie tätig, dass sich die Tochter nicht länger mit ihrem Gewicht herumquälen, sondern lernen sollte, sich richtig zu ernähren. Victoria sollte nicht mehr von ihren Mitschülern gehänselt werden. „Denn immer wenn sie geärgert wurde, hat sie sich mit Essen getröstet, besonders mit Süßigkeiten“, erinnert sich die Mutter.

Das „Obeldicks“-Jahr war hart für die Loreks. Die Mühe habe sich aber gelohnt, freut sich Violetta Lorek. In einer Gruppe mit fünf anderen Kindern habe es Vicki geschafft. Zwei Mal die Woche fuhr Violetta Lorek ihre Tochter zur Bewegungstherapie nach Datteln. Unter der Leitung von Motopäden oder Sportlehrern stand Sportunterricht auf dem Plan. Und der habe alles beinhaltet, „was Kinder ins Schwitzen bringt, aber auch die Motorik schult“, erklärt Violetta Lorek. Durch Ballspielen, Laufen und Klettern „sollen die Kinder wieder fühlen, dass Sport, besonders unter Gleichgesinnten, wo niemand Hemmungen wegen seines Gewichts haben muss, Spaß machen kann“, erklärt Kinderarzt Reinehr. Das fördere auch das Selbstbewusstsein der Kinder.

Vervollständigt wird das Projekt in den ersten neun Monaten durch Ernährungs- und Essverhaltenskurse für die kleinen Patienten und deren Eltern. „Ohne die Mithilfe der Eltern würde das ganze Projekt nichts taugen“, macht der Kinderarzt deutlich. Zu Hause sei der Ort, an dem gesunde Ernährung beginnen soll, bestätigt auch Schmitz-Krahm vom Gesundheitsamt Köln. Allerdings sei in vielen Haushalten das „Wissen über gesunde Ernährung verloren gegangen“. Dafür macht die Gesundheitsbeamtin Zeitmangel durch Berufstätigkeit verantwortlich. Das müssten die Familien in der Therapie beim gemeinsamen Kochen und Essen erst wieder erlernen.

„Das war nicht schwer“, findet Violetta Lorek, die ein bis zwei Mal die Woche die Gruppenkochsitzung besucht hat. Die Rezepte seien leicht zu behalten und schmeckten lecker. „Überbackene Vollkornbrötchen sind der Hit, wenn Vickis Freunde zu Besuch kommen“, zwinkert sie. Während des Ernährungskurses prägen sich Eltern und Kinder auch das Ampelsystem für Nahrungsmittel ein. Alle Lebensmittel, die auf grün stehen, dazu gehören Obst, Gemüse und Wasser, können bei Hunger und Durst ohne schlechtes Gewissen verspeist werden. Alles was unter gelb fällt, darf in Maßen genossen werden. Schokolade, der Dickmacher Nummer Eins, zählt ganz klar zu rot.

Voraussetzung für die Teilnahme ist der Wunsch der Kinder, abzunehmen

Aber alle paar Wochen mal ein dünn mit Nutella bestrichenes halbes Brötchen zum Frühstück oder zu besonderen Anlässen auch Pommes seien in Ordnung. „Das Kind soll nichts vermissen“, findet Victorias Mutter. Deshalb habe sich die Familie bewusst für das „Obeldicks“-Programm entschieden, weil die Kinder dort alles essen dürfen, wenn auch stark reduziert. Das verhindere den Heißhunger. Deshalb sind Süßigkeiten bei Loreks heute nicht verbannt, sondern rationiert, erzählt Victoria.

Aber nicht nur die Betroffene selbst, auch der Rest der Familie ist gefragt und hält sich an die vorgegebene Naschwerkmenge. Bei Loreks war es sogar so, dass Victoria durch ihren Therapieerfolg die Eltern angespornt hat, abzunehmen, so dass Vater und Mutter in anderthalb Jahren zusammen 60 Kilo verloren haben.

Ergänzt wird die Therapie durch Familiengespräche mit einem Psychologen über die Essgewohnheiten der Kinder. Dadurch sollen außerdem die daraus resultierenden Folgeerkrankungen verhindert werden, die normalerweise erst im höheren Alter, aber mittlerweile schon bei adipösen Kindern und Jugendlichen auftreten. Dazu gehören besonders Rückenschmerzen, Herz-Kreislauf-Krankheiten, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen oder auch Altersdiabetes.

Bei Victoria Lorek war das Programm erfolgreich, weil sie, wie ihre Mutter erklärt, die Sache sehr ernst genommen hat und immer noch nimmt. Es bringe nichts, wenn man nicht konsequent alle Termine wahrnimmt. Von den 380 Teilnehmern, die bisher bei dem einjährigen „Obeldicks“-Programm mitgemacht haben, reduzierten 79 Prozent ihr Übergewicht. Die Abbrecherquote liege bei 16 Prozent. Auch fünf Jahre nach Beendigung ihrer Therapie seien bei den meisten ehemaligen PatientInnen „die erzielten Erfolge“ noch nachweisbar, versichert Kinder- und Jugendarzt Thomas Reinehr. Auch Victoria muss alle drei Monate zu Doktor Reinehr –zum Wiegen und Messen.