: Der Musiksender im Altbau
VON BORIS R. ROSENKRANZ
Erdgeschoss. Erst mal anmelden. Also hinein ins nächstbeste Büro, links durch die Glastür. Guten Tag, Presse, wo ist der Chef? Eine junge Frau tippt Ziffern in ihr Telefon. Sie wartet. Und sagt: „Ich bin‘s, hi – jaa – tschühü.“ Vier Sekunden Telefonat, alle Achtung. Wenig später geht es die Treppe hoch, denn der Chef hat sein Büro oben in diesem schmucken Altbau im Essener Stadtteil Rüttenscheid. Was jedoch nichts besonderes ist. Besonders ist, dass an diesem Ort tatsächlich Musikfernsehen fabriziert wird. Ausgerechnet in einer Straße, die nach dem ollen Goethe benannt ist. Wo es keine Mitnehmkaffeeläden gibt, keine Bars. Wo es außer „tschühü“ kein einziges Musikfernsehklischee gibt. Nur Wohnhäuser. Und ein Altenheim.
Oberster Stock. Der Chef trägt Hemd, keinen Schlips und heißt Andreas Schwarz. Er war früher schon einmal Chef, bei RTL West, dem Regionalstudio des Privatsenders. Heute produziert der 44-Jährige mit seiner Firma Western Star klassische Fernsehbeiträge, Werbespots und Imagefilme, zum Beispiel für das Ruhrgebiet, die Kulturhauptstadt 2010. Seit Mitte September ist Schwarz zudem mit einem eigenen Musikkanal auf Sendung: hauptsächlich im Internet und über Astra-Satellit. Vereinzelt kann man Würfelzucker TV auch im Kabel- oder Digitalfernsehnetz empfangen – in Nordrhein-Westfalen allerdings noch nicht.
Würfelzucker TV? Um diesen merkwürdigen Namen rankt Schwarz die Legende einer aufreibenden Diskussion. Stundenlang habe man in der Firmenküche beraten, wie es denn nun heißen solle, das neue Kind. Irgendwann reichte es Schwarz. Er zeigte auf ein Päckchen Würfelzucker, sprach: „Wir können es auch einfach so nennen“ – und verließ genervt den Raum. Zurück blieben verdutzte Gesichter. Und ein Name, der heute durchaus polarisiert. Im Internet spekuliert ein anonymer TV-Glotzer darüber, was wäre, wenn der Sender einen Ableger gründen würde: „Heißt der dann Puderzucker TV?“
Schwarz‘ Büro ist aufgeräumt, die Wände sind ziemlich nackt. Und zum Kaffee gibt es natürlich Würfelzucker, die Hausmarke. Auf der grasgrünen Verpackung steht „Leck mich“, der Werbespruch eines Senders, der bisweilen kaum Werbung macht. „Wir haben einfach noch keinen Werbeetat“, sagt Schwarz. Stattdessen werde ab und an eine Tour präsentiert, wie unlängst die der Deutschpopband Fotos. Da taucht Würfelzucker dann auf Plakaten auf. Ansonsten arbeitet der Sender bisher eher im Verborgenen, dafür aber mit einem nicht gerade unbescheidenen Anspruch: „Wir wollen Marktführer in Deutschland werden“, sagt Schwarz. Er meint es ernst. Und ist sogar an einer Lizenz für Handy-TV dran. Denn einen Spielfilm, sagt Schwarz, würde sicherlich keiner auf dem Mobiltelefon ansehen – „einen kurzen Musikclip schon eher“.
Nachdem sich andere Musiksender vom Kerngeschäft entfernt haben, will Würfelzucker TV einen Gegenpol bilden: Statt Werbung und Entertainment soll Musik im Vordergrund stehen, in Form von Clips, Interviews und Hintergrundberichten. „Klingeltöne kommen uns nicht ins Haus“, sagt Schwarz. „So arm können wir gar nicht sein, dass wir das machen würden.“ Stattdessen sollen Genres bedient werden. Ob Rock, HipHop oder R‘n‘B: Schwarz will, dass jeder Fan bei Würfelzucker TV eine Heimstatt findet. Tagsüber laufen hauptsächlich Charts, Clip nach Clip nach Clip, zwischendurch Interviews. Abends sollen demnächst eigene Formate etabliert werden, kleine Shows, die sich bestimmten Sparten widmen und eigene Moderatoren haben. Wo also nicht plötzlich Sarah Kuttner oder Charlotte Roche auflaufen, sondern neue Gesichter.
Ein Thema, das immer wiederkehrt: Wieso Essen? Warum sitzt Würfelzucker TV nicht dort, wo man es gedanklich eher ansiedeln würde, also in Köln oder Berlin? Die einfache Antwort: Der Chef lebt hier. Und doch sagt er: „Aus wirtschaftlichen Gründen werden wird irgendwann umziehen.“ Vielleicht nach Berlin oder Hamburg, beides Städte, die bereits Interesse an Würfelzucker bekundet hätten. Oder sagt Schwarz das nur, weil er sich mehr Aufmerksamkeit wünscht? Vielleicht. Er sagt nämlich auch: „NRW ist ein schwieriges Pflaster, was Medienpolitik angeht.“ Hier stünden „knallharte medienpolitische Interessen“ im Vordergrund. Statt eines Musiksenders bekomme eher ein Shoppingkanal einen Sendeplatz.
Schwarz ist überzeugt von seinem Konzept. Überzeugt, dass es noch einen Musiksender braucht in einer Zeit, in der man fast alles aus dem Internet saugen kann. Zumal auch Würfelzucker auf das Internet setzt. Hier läuft das aktuelle Programm, hier können Interviews, die bereits gesendet wurden, unendlich oft abgerufen werden. Außerdem gibt es, wie im neuen Web 2.0 üblich, eine Community, der Bands online eigene Lieder präsentieren können. Die Hörerschaft entscheidet dann, was sie davon hält. Läuft es gut, nimmt Würfelzucker ein Video der Band ins Programm. Entschieden wird das allerdings nicht in diesem Haus, sondern in einem verwinkelten Bau nebenan. Dort sitzt die Redaktion.
Nebenhaus. 15 Menschen arbeiten für Würfelzucker. Halten Kontakt zu Plattenfirmen. Erstellen das Programm. Schneiden Beiträge. Was für einige von ihnen kein Neuland ist: Sie kommen von der Konkurrenz, wie Paulo Runa Ferreira, der früher beim Musiksender Viva in Köln arbeitete, bevor der von MTV geschluckt und in die Hauptstadt verfrachtet wurde.
Ferreira sitzt auf dem Sofa in seinem Büro, neben ihm läuft die Glotze, welches Programm, ist klar. Der 40-Jährige ist Programmdirektor bei Würfelzucker TV, wohnt in Köln, sitzt jeden Tag mehrere Stunden im Zug und findet Essen, gelinde gesagt – schrecklich. „Musik-TV spiegelt eine Lebensart wieder – das passt nicht zu Essen-Rüttenscheid“, sagt Ferreira. Und doch ist er hier. Weil man etliche Dinge ausprobieren könne, ohne dass sie gleich als „sendungsgefährdend“ eingestuft würden. Außerdem müsse man sich beim Geschäftsführer keine Termine holen – man gehe einfach so hin. Das Wichtigste aber: „Es ist wieder richtiges Musikfernsehen.“
Das sagen vor allem die Viva-Geschädigten, die den Klingeltonterror einst mit angerichtet haben. „Da kann man jeden fragen: Klingeltöne nerven“, sagt Stephan Walla, auch ein früherer Viva-Mitarbeiter und heute – man hatte lange auf einen solchen Titel gewartet: Head of Music Management bei Würfelzucker. Zu deutsch: Musikchef. Als solcher hatte er dann auch schon mal Post von alten Kollegen in seinem elektronischen Briefkasten. Inhalt, stark verkürzt: „Ich bin immer noch bei Viva – holt mich hier raus!“
www.wuerfelzucker.tv