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Archiv-Artikel

Stolpernd zur Selbsterkenntnis

Würstchen außer Kontrolle: Dorfrichter Adam kehrt zurück. Rafael Sanchez inszeniert Kleists „Zerbrochenen Krug“ am Schauspiel Hannover launig lustig und handwerklich so gediegen wie die Gartenzwerge, die das Bühnenbild bevölkern. Und wohl auch mit einem Schuss Angst vor zur großer Glätte

VON EVA BEHRENDT

In Huisum, dem kleinen niederländischen Dorf aus Heinrich von Kleists „Der zerbrochene Krug“, ist die Welt noch in Ordnung. Alle bewohnen dasselbe Fertiglaubenmodell im Schwarzwaldstil, sammeln Gartenzwerge und fahren ein ökologisch korrektes Klapprad, das unabgeschlossen vor der Haustür stehen bleiben kann. Ein Schrebergartenparadies, so sauber und niedlich wie bei „Schneewittchen und den sieben Zwergen“, weshalb man auch keinen Moment verblüfft wäre, wenn Otto Waalkes mit einem ohrwackelnden „Hallo Kinder!“ um die Ecke böge. Nur der Lautsprecherlärm eines landenden Flugzeugs signalisiert, dass selbst überm Huisumer Idyll das Damoklesschwert einer allzu platten Moderne schwebt.

So stellen sich der Basler Regisseur Rafael Sanchez, Jahrgang 1975, und Bühnenbildner Simeon Meier, Jahrgang 1972, am Schauspiel Hannover die Welt vor, in der Richter Adam, der letzte Nacht die junge Eve sexuell zu erpressen versucht hat und dabei den wertvollen Krug zerbrach, über sich selbst Gericht sitzen muss. Damit leisten sie schon mal allen Gerüchten Vorschub, die in letzter Zeit übers Regietheater der Generation um die 30, den neuen Hoffnungsträgern an den Theatern zwischen München und Hamburg, Bochum und Berlin, kursieren: nämlich handwerklich hochbegabt, aber bis zur Gefälligkeit harmlos und ohne eigene künstlerische Vision zu sein. Sie pflegen zwar wieder die Klassiker, dengeln sie dabei aber oftmals so spaßig hin, dass nach flotten 90 Minuten keine weitere Frage im Zuschauerhirn bleibt.

Immerhin ist das Hannoveraner Ensemble so herrlich locker und screwballhaft aufeinander eingetaktet, dass es sich nicht nur verschachtelte Kleistsätze leichtzüngig zuwerfen kann, sondern auch immer wieder den langweiligen Gartenzwerghumor, den das Setting vorgibt, in Grund und Boden spielt. „Jeder trägt den leidigen Stein zum Anstoß in sich selbst“, lässt Kleist seinen ramponierten Richter gleich zum Auftakt verraten. Peter Knaaks Adam, der damit den anderen Huisumern in Sachen Selbsterkenntnis um einiges voraus ist, macht diesen Satz ganz physisch zum Motto seines Junggesellen-Adams.

Im Laufe des Prozesses um das zerschlagene Porzellan, den er unter der strengen Aufsicht des neuen Gerichtsrats Walter zu führen hat, stolpert er nicht gerade feinsinnig, aber verzweifelt komisch immer wieder über denselben Stein: Als Eve (Mila Dargies), von der Mutter und Krugbesitzerin Marthe (Martina Struppek) als „Metze“ beschimpft und geschlagen, wie tot am Boden liegt, will er ihr –„Evchen, mein Mädchen“ – aufhelfen und verheddert sich mit dem leblosen Körper ausdauernd in zweideutigen Posen. Und als ihn der stramme Walter (Clemens Schick), sekundiert vom eifrigen Schreiber Licht (Moritz Dürr), beim unvermeidlichen Barbecue selbst ins Verhör nimmt, fuchtelt er so nervös mit der Grillzange herum, dass er, nun ja, die Kontrolle über sein Würstchen verliert. So weit ist mit Musikbegleitung (Anna-Sophie Mahler, Gilbert Trefzger), Songeinlagen, Dialektspäßen und ein paar akrobatischen Nümmerchen alles hübsch unterhaltsam über die Bühne gegangen.

Doch kurz vor der Grill-Szene, in der Adams Schuld offenbar wird, lässt Rafael Sanchez seinen Kleist abheben. Laubendächer und -wände lösen sich aus den Fugen und fahren lautlos ein Stück gen Himmel, aus den Stuben leuchtet es überirdisch, und es ist, als könnte man plötzlich aller Welt hinter die Gehirnschalen schauen. Der verklärte Moment der Wahrheit fällt hier, anders als bei Kleist, mit dem Moment der definitiven Abrechnung zusammen. Mit der Pistole, die Walter mitgebracht hat, schießt Eve als Erste auf Adam, die anderen Huisumer folgen ihr. Blutüberströmt fällt Adam auf den nächsten Gartenstuhl. Die Dächer senken sich, die alte Ordnung wird wiederhergestellt.

Oups! Aus dem Subjektdrama, als das Kleists Komödie im Programmheft gelesen wird, ist in letzter Sekunde noch ein Sozialdrama geworden, das sagt: Die Zeiten sind wieder härter geworden als damals um 1800.

Heißt das, dass wir inzwischen andere Sorgen haben, als über uns selbst zu richten? Dass der Sündenfall, den Kleist mit Adam und Eve beschrieb, jetzt erst nach Schuldspruch und mit Urteilsverkündung beginnt? Oder musste ganz einfach, mit Blick auf die Uhr, eine irgendwie doch noch politische Wendung her, aus aktuellem Anlass inspiriert von der Hinrichtung bärtiger Diktatoren? Wer Letzteres vermutet, darf das Theater mit dem schönen Gefühl verlassen, noch eine Frage mit auf den Weg bekommen zu haben.