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Archiv-Artikel

Die Frau mit der Leuchtspur

Professorin ohne Starallüren: Hille Perl unterrichtet an der Hochschule für Künste Bremen die Viola da Gamba. Ihre Aufnahmen verkaufen sich außerordentlich gut. „Die beste Gambenspielerin der Welt“, heißt es in manchen Feuilletons. Vor rund 40 Jahren wurde die Gambe wiederentdeckt

Perl spielt seit 36 Jahren Gambe, weil Gambespielen cool ist. Und cool ist Gambespielen, „weil ich das mache“

von Benno Schirrmeister

Morgens um sechs Uhr füttert Hille Perl die Pferde und die Hühner. Außer, sie ist auf Tournee. Delmenhorst heute, das wird wohl noch zu schaffen sein, aber im Frühjahr geht’s noch nach Mailand, Lübeck und nach Wien, und zweimal Suttgart und zwischendurch Berlin, da jettet man nicht mal so eben in die Wildeshauser Geest, höchstens in Gedanken, und davon wird ein Huhn nicht satt.

Aber die Nachbarn kennen das schon. Die springen dann ein. Und dem Vernehmen nach sogar gern. „Allüren hat die jedenfalls keine“, stellt der Bürgermeister von Winkelsett klar. Dass sie seit fünf Jahren Professorin in Bremen, Prodekanin und momentan auch Konrektorin an der Hochschule für Künste ist, das wisse man schon. Auch habe sie hier bereits Konzerte gegeben, wenigstens in Wildeshausen, also fast direkt in Winkelsett. Aber „ist die denn wirklich so berühmt“ ?

Naja, relativ, wie alles: Sie spielt Viola da Gamba, und da gibt es sogar eine Menge Menschen, die gar nicht wissen, was das ist. Perl ist für diese Streichinstrumentenfamilie „Deutschlands einzige Professorin“, wie die F.A.Z richtig recherchiert hat, denn die drei übrigen Lehrstühle sind von Männern besetzt. Und die Brigitte-Kulturredaktion hat sogar festgestellt, sie sei „die beste Gambenspielerin der Welt“. Das wiederum darf als bewiesen gelten, weil sie die einzige Gambistin ist, die es je in die Brigitte geschafft hat.

In ihrem Fach ist Perl also ein Star, und bei amazon.de hält sie sich momentan auf Verkaufsrang 35, mit, außerordentlich: Gambenkonzerten, und – fast das größere Wunder: mit Werken von dem als Schulmusiker verschrienen Wahl-Hamburger Georg Philipp Telemann (1681-1767). Es ist aber davon auszugehen, dass Hille Perl das Wort Star nicht mag. Und dass ihr Verkaufszahlen nun ja, vielleicht nicht völlig schnuppe sind. Aber doch fast. Die Eröffnung, dass sie ja nun auf Platz zwölf der Klassikcharts stehe, quittiert sie mit hochgezogenen Augenbrauen und einem dahingeschnaubten „na toll“. Klar, ihr Gesicht prangt auf den CD-Covern, aber nicht ohne Gegenleistung. Sie zumindest hat sich das nicht so gewünscht, nee. Das wollte die Plattenfirma so: Oh man, scheiße, habe sie sich da gedacht, das sei ja „wieder der Interpret als Alleinherrscher und Gott“. Und genau darum geht es eben nicht.

Ihr nicht, muss man hinzufügen, weil die Klassikbranche ja schon stark fokussiert auf die Kling-Klings und Schnetteretengskajas und andere vorzeigbare Gesichter. Hat sie ja auch, keine Frage, markante Nase, dunkle Haare, große braune Augen, sinnliche Lippen – ein Gesicht mit hohem Wiedererkennungswert, da haben die Leute vom Sony-Marketing schon recht. Besitzt aber gleichzeitig noch: einen Kopf. Das große Unisono aus Winkelsett: Büschen eigen, aber sowas von unkompliziert. Klar, selten da, aber total integriert. „Die bringen sich ein“, sagen die Dorfbewohner über Perl und den Lautenisten Lee Santana, ihren Mann. Erinnert werden Benefizkonzerte für die „Interessensgemeinschaft Hochspannung“, die für den unterirdischen Verlauf der Überlandleitung streitet. „Ich hatte“, sagt Perl, „mal überlegt, ob ich nicht Bürgermeisterin werden sollte.“ Ein Witz? Ein Scherz? Wahrscheinlich dann doch: Sie lacht danach, auf ö, „Hö, hö, hö“, und das klingt ziemlich fidel.

Wildsüß tröpfelt die Melodie: Eine Viola da Gamba kann klingen, wie Waldhonig schmeckt. Sie kann auch quietschen, wie ein D-Zug bei der Einfahrt in den Bahnhof und läuten wie ein Glockenspiel. Weil sie „alle Modulationen der menschlichen Stimme“ und selbst die „feinsten Nuancen des Ärgers und der Freude“ nachahme, sei die Gambe das beste aller Instrumente, schrieb 1636 Descartes Briefpartner Marin Mersenne.

100 Jahre später druckt man Verteidigungs-Traktate für die Gambe und erbitterte Polemiken gegen die neumodischen Violoncelli. Vergebens: Ab 1800 ist es aus mit dem perfekten Instrument. Schließlich ist so ein Cello ja bedeutend lauter. Gambe? Wird nicht mehr gespielt. Wird nicht mehr gebraucht. Wird nicht mehr gebaut. Es bleiben über: ein paar Versprengte im Untergrund.

Die Rückkehr der Gambe ist ein Ereignis des 20. Jahrhunderts. Es lässt sich auf die 1960er Jahre datieren, und was es genau musikhistorisch bedeutet, welche Folgen es hat: die Wiederentdeckung der alten Musik, wird sich erst später einmal sagen lassen. Interessant ist die Zeit bis zum Beginn der Wiener Klassik, weil ihr die Illusion, Musik vollständig fixieren zu können, radikal fremd war. Weil sie, ganz im Gegenteil, eine Vielfalt des Ausdrucks nicht nur zuließ, sondern forderte. Und in der Gambe fand: Ohne die alten Instrumente bleiben davon bestenfalls Ruinen, manches wird purer Schrott: Telemann mit Moeck-Flöte und Klavier zum Beispiel – das ist „das Grauen in Tüten“. Sagt Perl.

Die Klanghorizonte zu erweitern, das wiederum ist eine moderne Suchbewegung. „Wir machen“, sagt Perl, „diese Musik nicht aus historischen Gründen.“ Das sei für sie „Gegenwartsmusik, Punkt“. Und die Gambe „das wichtigste Instrument des 21. Jahrhunderts“. Holla? So absolut? Doch, doch, das ist ihr Herzensglaube, da bleibt sie schon dabei: „Das wichtigste.“ Schließlich produziere sie gerne auch einmal eine steile These, „hö, hö, hö“. Auf Rechtfertigungen hat sie ohnehin keinen Bock. Sie ist 41 Jahre jung, sie spielt seit 36 Jahren Gambe, weil Gambespielen cool ist. Und cool ist Gambespielen, „weil ich das mache“.

Hille Perl verursacht eine Art Leuchtspur: Verärgerte? Feinde? Nicht zu finden. Schülerbefragung: alle glücklich. Aussage eines Tonmeister, der mit ihr zusammengearbeitet hat, bei Aufnahmen, wo sie bloß zur Bass-Gruppe gehörte: Toll sei das gewesen, „mit wie viel Musikalität dieses Fundament erfüllt war“. Das setze Impulse, färbe auf „alle anderen ab“. Bis zur Dominanz? Nein. Nur „motivierend“.

Zwei große Fenster, aber Regen zieht auf und hält das Licht gedeckt. Der Raum in der Hochschule in Bremen – gut 4,50 Meter hoch, leicht harziger Geruch, frisch gekälkt die Wände – vermittelt ein Restgefühl der Enge: So schmal ist er gar nicht, aber da verdeckt beispielsweise ein Vorhang aus schwerem Stoff die linke Seitenwand. Andererseits stehen dem zwei wuchtige neobarocke Schränke gegenüber, und, neben der Tür, lindgrün mit Goldrand, ein Cembalo. Vor allem aber ist da diese Sammlung von Koffern: Manche der Kästen wirken leicht verwachsen, gestaucht oder umgekehrt mit langgezogenem Hals. Die Farben: burgundrot, elfenbeinweiß, anthrazit, die Haut gelacktes Kunstharz oder abgegriffenes Leder.

Das ist, verpackt und verschnürt, der Gamben-Pool. Perls zwölf SchülerInnen haben Zugriff auf die Instrumenten-Sammlung, brauchen sie auch, denn neben der Standard-Kniegeige, der Viole de basse, gibt es noch die violinhohe Diskant-, natürlich auch die beiden für die Mittelstimmen, die extremtiefe Subbass-Gambe und noch … aber das führt zu weit: Die Gambe ist vielleicht keine eigene Welt, aber ein Kontinent eben doch. Perl sitzt da, auf einem Stuhl, schwarz gekleidet, wie immer, und obacht! Jetzt spielt sie ein paar Takte, für die Fotografin, auf dem Instrument ihrer Tochter, die auch bei ihr studiert.

Über Musik sollte man nicht schreiben, vor allem nicht über gute. Je schöner sie ist, desto mehr mixen die Texter ein abweisendes Fachvokabular mit – verklemmte Hinweise auf die subjektive Hörerfahrung – geschmirgelten Trivialmetaphern, die doch nur sagen: Eine verbale Entsprechung ist dem Autor nicht eingefallen.

Musik teilt sich selbst mit, oder gar nicht: Aus der Musik, okay, das scheint möglich: Zu sagen, warum diese Musik und nicht jene. Und warum so und nicht anders. Und Perl hat sich das Recht dazu erstritten: Das ist ja die Verabredung mit Sony BMG: Kopf fürs Gesicht. Bei den Booklets, „dürfen die mir nicht reinpfuschen“. Weder kürzen, noch umschreiben, noch verlängern: „Das ist der Deal,und das ist auch fair.“

Zu lesen sind da Bekenntnissätze: über das Erlebnis, „durch die Töne zu fliegen, frei und wild wie die Vögel, ohne Geschwindigkeitsbegrenzungen und ohne die Gefahr, jemals am Baum zu landen“. Oder gute Gründe, Telemann zu spielen: „sein Leben, sein Leiden, seine fantastische Musik und der große Spaß, den er sicherlich hatte, sollen nicht vergessen werden“: Es geht um kulturelle Identität. Um einen Dialog mit dem Vergangenen. Und den gibt es so nur in der Musik. „Ich bin da“, sagt Perl, „ein ganz kleines Kulturträgerchen.“ Hö, hö, hö.

Norddeutschland-Konzerte: Delmenhorst: heute, 20. Januar, 20 Uhr, kleines Haus. Bremen: Sa. 17. 2. 20 Uhr, Glocke. Lübeck, NDR, 9.5., Hamburg, NDR, 10.5.