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Zu Besuch bei Monsieur Charles

Keine Nostalgie nach dem Schtetl: Robert Bober erzählt schrecklich heitere Geschichten von Wartenden und Überlebenden. In Deutschland wurde das Buch erst abgelehnt und dann heftig emporgelobt. Es ist trotzdem gut  ■ Von Walter van Rossum

Claude Monet war ein echter Künstler. In einem Brief an Clemenceau bekannte er, wie er am Sterbebett seiner Frau Camille „die Augen auf die schreckliche Schläfe richtete und dabei versuchte, die Abfolge, das allmähliche Fortschreiten des Verfalls der Farben, die der Tod dem unbeweglichen Gesicht aufzwang, herauszufinden“. Und so hat er aus der Toten ein Kunstwerk gemacht, das wir im Museum bewundern dürfen.

Monsieur Charles hingegen ist kein Künstler. Er arbeitet in einer Schneiderei. Er schweigt viel und putzt sich die Brille. Er hat die Deportation überlebt. Er wartet auf Frau und Kind. Er hat mit viel Mühe seine alte Wohnung wiederbekommen, in die längst ein Franzose eingezogen war.

Aber er ist nicht in diese Wohnung eingezogen. Er hat ein Hotelzimmer gegenüber gemietet, von dem aus er in die leerstehende Wohnung sehen kann. „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ – aber diesen Tod kann man nicht sehen, nicht malen, nicht aufschreiben.

Er ist eine leere Wohnung, eine Urne ohne Asche, eine Aussparung, ein wegrutschendes Wort im Mund der Überlebenden.

Robert Bober ist kein Schriftsteller. Und doch hat er einen Roman geschrieben. Sagen wir, er handelt von unbewohnten Wohnungen, von Wartenden, von Überlebenden. Die Geschichten, die Bober von diesen Menschen erzählt, sind federleicht, heiter, bunt und so voller anheimelnder Melancholie, daß einem der Schreck in die Glieder fahren kann.

Sollte hier mal wieder in den besseren deutschen oder französischen Kreisen gepflegte Sehnsucht nach dem Schtetl, nach gefilltem Fish und Pickelfleisch, nach jüdischem Witz und jüdischer Melancholie, nach archaischer Gemeinschaft (im Gegensatz zur hyperkomplexen Gesellschaft) bedient werden? Sollte hier im gebührenden Abstand von nicht im Gewölk der Zeiten versunkenen, sondern von mit der Streitaxt ausgerotteten Menschen, Sitten und Orten in hübschen Genrebildern erzählt werden?

Ein Mißverständnis beim „Anlesen“ (der Haupttätigkeit überarbeiteter deutscher Lektoren), ein Mißverständnis, das erklärte, warum die bekannteren literarischen Verlage unseres Landes das Buch abgelehnt haben; ein Mißverständnis, das vielleicht auch erklärt, warum die deutschen Kritiker das Buch gleich auf die Rangliste befördert haben. Es ist trotzdem gut.

Robert Bober ist kein Schriftsteller. Und womöglich wird diesem Roman kein zweiter folgen. Wer im Alter von 63 Jahren sein erstes Buch veröffentlicht, hatte vielleicht nur einmal etwas zu schreiben.

Bober wurde 1931 als Sohn polnischer Juden in Berlin geboren. 1933 emigrierte die Familie nach Frankreich. Robert wollte eigentlich Uhrmacher werden, aber er erlernte das Schneiderhandwerk.

Bis 1953 nähte er, danach hat er eine Zeit als Hilfstherapeut mit psychisch Kranken gearbeitet. Durch einen Zufall – gewiß kein beliebiger – lernte er den Regisseur François Truffaut kennen, dessen Assistent er wurde. Bei „Schießen Sie auf den Pianisten“ und „Jules und Jim“ finden wir seinen Namen im Abspann. In den sechziger Jahren begann er dann, als Dokumentarfilmer für das Fernsehen zu arbeiten. Zusammen mit Pierre Dumayet machte er, der erst mit 20 sein erstes Buch gelesen hatte, Filme über Bücher und Schriftsteller.

Mit seinem Freund Georges Perec drehte er 1979 die „Récits d'Ellis Island“ – ein wunderschöner Film über jene kleine Insel vor New York, wo Tausende von Emigranten aus dem alten und mörderischen Europa ihre letzte Einwanderungsprüfung über sich ergehen lassen mußten.

Mit dem 1982 verstorbenen Perec teilte Bober eine lange Freundschaft und manche Ähnlichkeit der Herkunft, was man in Perecs atemberaubendem Versuch einer Autobiographie „W oder Die Kindheitserinnerung“ nachlesen kann. Und so geistert auch Perecs unverkennbare Silhouette durch Bobers Roman.

„Was gibt's Neues vom Krieg?“ enthält zweifelsohne autobiographischen Stoff. Im zweiten – kürzeren – Teil des Romans erahnen wir hinter dem Ich-Erzähler, einem Fotografen, den Dokumentarfilmer Bober, der in den siebziger Jahren Filme über die Kinder deportierter Juden („La Génération d'après“) und über die in Deutschland geborenen und von dort geflohenen Juden polnischer Abstammung gedreht hat. Der Fotograf gerät ins Grübeln über die Möglichkeiten, die Grenzen der Abbildung. Wie kann man eine vollständig unter den lehmigen Stoff der Geschichte gepflügte, eine vergaste und verweste Welt bezeugen?

Und von diesem Grübeln über der Erscheinung her erklären sich auch die irritierend leichten Geschichtchen über eine jüdische Schneiderei in den Jahren 1945/46 im Pariser Textilviertel Sentier oder über Menschen im ehemaligen jüdischen Viertel Marais: lebendige Grabsteine, Inschriften, Mahnmale, unter denen weder Gebeine noch Asche ruhen. Diese Überlebenden sind die Spuren einer Abwesenheit, die sich den geringsten ihrer Gesten eingeprägt hat.

Die letzten Bilder des Romans zeigen den Fotografen zu Besuch bei Monsieur Charles im jüdischen Altenheim, und wir ahnen, warum Robert Bober diesem sterbenden Zeugen der Ausrottung die eigentümliche Existenzform der literarischen Fiktion verliehen hat: um Dokumentarist zu bleiben.

Robert Bober: „Was gibt's Neues vom Krieg?“ Roman, Verlag Antje Kunstmann, München 1995, 190 Seiten, 32 DM

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