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Archiv-Artikel

Der mechanische Türke

Das Schachspiel zwischen Wladimir Kramnik und Deep Fritz gilt als Endkampf zwischen Mensch und Maschine. Eröffnet wurde diese spannende Partie vor 217 Jahren vom „mechanischen Türken“

von ARNO FRANK

„Und wenn wir den Schachspieler wirklich für eine reine Maschine ansehen wollen, müssen wir zugeben, dass er, über jeden Vergleich mit anderen Automaten erhaben, die wunderbarste Erfindung der Menschheit ist.“(Edgar Allan Poe, 1836)

Noch ist nicht entschieden, wer das Duell gewinnen wird, noch wird gespielt. Weil sich Schachweltmeister Wladimir Kramnik (31) aber am Mittwoch einen haarsträubenden Fehler erlaubt hat, liegt derzeit das Schachprogramm Deep Fritz in Führung. Vordergründig geht es bei dem Turnier um die stolze Siegprämie von 1 Million Dollar, tatsächlich aber wird in der Bonner Bundeskunsthalle ein Schaukampf abgehalten, bei dem die Ehre unserer Spezies gegen eines ihrer wirksamsten Werkzeuge verteidigt werden soll – schon handelsübliche Schachcomputer sind längst in der Lage, mühelos 99 Prozent der Erdbevölkerung zu schlagen. Ginge es nur um die Rechenleistung, hätte diesmal selbst der Weltmeister keine Chance.

Mit seinem gewaltigen Speicher und einer brutalen Geschwindigkeit von acht Millionen Stellungen pro Sekunde errechnet, prüft und merkt sich das Programm Deep Fritz alle zukünftigen Spielmöglichkeiten, die sich aus den nächsten neun Zügen ergeben könnten.

Dieser unschlagbaren Rechenleistung begegnet das menschliche Gehirn (im Prinzip auch nur ein weicher feuchter Computer) mit 100 Milliarden Nervenzellen, die durch 100 Billionen Synapsen eng verknüpft sind – und der Fähigkeit zum strategischen, also vorderhand „unlogischen“ Spiel. Genau hier liegt die kleine Chance, die das kreativ Unvollkommene nutzen muss, will es gegen die stur kalkulierende Perfektion bestehen. Und hierin besteht auch die Kränkung, die der technologische Fortschritt für den Menschen bereithält.

Als Gary Kasparov 1997 gegen Deep Blue verlor, schob er die Schuld noch auf den verdeckten Eingriff eines menschlichen Spielers, weil manche Züge anders nicht zu erklären seien.

Ihm sekundierte der Philosoph John Searle mit dem Hinweis, die Partie sei in Wahrheit zwischen Kasparow und den Programmierern von Deep Blue ausgetragen worden.

Spätestens hier kommen epistemologische, kybernetische und vielleicht sogar metaphysische Aspekte ins Spiel – in ein Spiel, das schon 1770 begann, ganz harmlos, mit dem Zug eines Bauern, im Schloss Schönbrunn bei Wien, ausgeführt von Staatsrat Graf Cobenzl. Ihm gegenüber saß der Urahn von Deep Fritz – ein Automat, der die Welt an der Schwelle zur Moderne verblüffte und 80 Jahre lang in Atem halten sollte. Das Ding spielte Schach. Und meistens gewann es.

Das legendäre Gerät war das Werk des kaiserlichen Hofkammerrats Wolfgang von Kempelen, der das Innere seiner geheimnisvollen Truhe gerne vorzeigte. Da griffen Räder ineinander, klapperten uhrwerkartige Vorrichtungen, drehten sich filigrane Walzen und spannten sich silberne Drähte, und oben auf der Truhe ruhte eine überlebensgroße Puppe, die wie ein Türke gekleidet war, bei schlechten Gegnern mit den Augen rollte und mit ihrem rechten Arm tatsächlich die Figuren bewegte.

Vor allem bewegte der „mechanische Türke“ das romantisch veranlagte Publikum, und zwar so nachhaltig, dass er später mit seinem Erfinder (und späteren Besitzern) auf ausgedehnte Tourneen gehen sollte – nach Paris, nach London und am Ende sogar in die USA, wo Edgar Allan Poe sein Rätsel zu lüften versuchte. Dass man einem Taschenspielertrick aufgesessen war und im Innern tatsächlich talentierte Schachspieler am Werk waren, spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Man wollte an den Fortschritt glauben. Und so inspirierte der „Türke“ im 19. Jahrhundert unter anderem Charles Babbage zu seiner feinmechanischen „analytical engine“, dem Vorläufer des Computers.

Überliefert ist auch die Notation einer abgebrochenen Partie, die der siegreiche Feldherr Napoleon 1809 in Schönbrunn gegen den „Türken“ spielte. Der Stratege testete den Automaten, indem er ihn mit unlogischen Zügen konfrontierte. Genauso, wie es Wladimir Kramnik heute mit Deep Fritz versucht.