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Archiv-Artikel

„Es gibt einen Schrei nach Veränderung“

REAKTIONEN Willis Johnson, Pastor in Ferguson, über die Hintergründe des Aufruhrs in den Straßen seiner Stadt, das Verlangen nach Gerechtigkeit und die Suche nach neuen Strategien des Zusammenlebens

Willis Johnson

■ 39, Pastor von der Wellspring Kirche in Ferguson, war in den Tagen und Nächten seit den tödlichen Schüssen auf den unbewaffneten Teenager Michael Brown viel auf der Straße unterwegs. In angespannten Konfrontationen mit der Polizei ist er persönlich auf Jugendliche zugegangen. Seine Gemeindemitglieder gehen als Freiwillige bei den Demonstrationen mit und skandieren den Slogan, mit dem die Protestbewegung der Polizei gegenübertritt: „Hands up – Don’t shoot“.

INTERVIEW DOROTHEA HAHN

taz: Herr Johnson, Auslöser für den Aufruhr in Ferguson waren die tödlichen Polizeischüsse auf Michael Brown. Aber die Wut scheint tiefer zu gehen. Warum?

Willis Johnson: Wir erleben kontinuierlich und scheinbar endlos Vorfälle, bei denen junge Leute auf der Straße erschossen werden. Oft ist es lediglich eine Wahrnehmung, aber manchmal ist es gut dokumentiert, dass nichts passiert war, bevor die Leute tödlich verletzt wurden. Wir können darüber debattieren und spekulieren, was jeweils zu den Schüssen geführt hat. Aber unter keinem einzigen Vorwand ist ein Todesurteil auf der Straße gerechtfertigt.

Was ist das Hauptproblem: Rassismus, exzessive Polizeigewalt, wirtschaftliche Not?

All das zusammen. Die Kombination scheint tödlich zu sein.

In den USA passiert es immer wieder, dass Polizisten oder bewaffnete Wachleute unbewaffnete – meist afroamerikanische – Teenager töten. Aber in Ferguson sind die Reaktionen diesmal heftiger. Wie erklären Sie das?

Ich glaube nicht, dass die Reaktion jetzt stärker ist. Ich habe in anderen Teilen der USA gelebt, und ich ringe nicht zum ersten Mal in meinem Leben mit einer solchen Situation. Für manche Leute mag es das erste Mal sein, dass sie die Vorhänge zurückziehen und genau hinschauen. Aber die Menschen leiden schon seit sehr langer Zeit. Und sie haben schon sehr lange ihre Anliegen deutlich gemacht und Veränderung gefordert. Nicht nur in Ferguson, sondern überall. Es gibt einen Schrei nach Veränderung. Ganz besonders bei der jungen Generation. Sie ruft nach Gerechtigkeit, Frieden und Gleichheit. Sie kommt aus dem Privaten heraus in den öffentlichen Raum.

Manche in Ferguson meinen, dass der Tod von Michael Brown ohne die Plünderungen und ohne die Festnahmen von Journalisten nur eine Ein-Tages-Meldung gewesen wäre. Stimmt das?

Da mag etwas dran sein. Wir wissen, dass gewisse Aktionen Aufmerksamkeit bringen.

In den vergangenen Tagen haben Sie – und andere Mitglieder Ihrer Gemeinde – immer wieder versucht, Demonstranten aus extrem angespannten Konfrontationen mit der Polizei herauszuholen.

Wir wollen niemanden davon abhalten, sich auszudrücken oder zu demonstrieren. Wir sind solidarisch und unterstützen die Menschen. Wir bestärken sie in ihren Gefühlen. Die Gemeinschaft ist dabei, sich zu verändern. Und meine Gemeinde und viele andere helfen dabei. Wir laden unsere jungen Leute ein, Strategien zu entwickeln, um allgemein gesündere Beziehungen zueinander aufzubauen. Denn es gibt einen „racial disconnect“ …

also eine tiefe Kluft zwischen den Bevölkerungsgruppen …

… und ökonomische Schwierigkeiten und vieles andere.

Wie bewerten Sie die Polizeieinsätze dieser letzten Tage?

Ihre Taktiken und Strategien werfen Fragen auf und machen mir Sorgen. Es geht nicht nur darum, wie die Polizei am Abend und gegenüber Demonstrationen vorgegangen ist, sondern auch, wie sie darüber informiert. Um ihr Vorgehen nach den Schüssen, von denen viele von uns – mich eingeschlossen – denken, dass sie unnötig waren. Damit das nicht wieder passiert, sind alle gefragt, die am Wiederaufbau und der Stärkung von Ferguson interessiert sind.

Bei den Protesten der letzten Tage sind hauptsächlich Afroamerikaner zu sehen. Haben Sie Unterstützung von Weißen?

Das Problem betrifft unverhältnismäßig viele Afroamerikaner und Angehörige anderer Minderheiten. Aber wir haben große Unterstützung – aus einer sehr diversen Gemeinschaft – quer durch die Altersgruppen und ethnischen Zugehörigkeiten. Auch wenn das von außen nicht so sichtbar sein mag.

Was ist nötig, damit Ferguson aus der Krise herauskommt?

Das ist wie nach einem Trauma. Im Augenblick ist Ferguson ein Traumapatient. Aus medizinischer Sicht muss der Patient zunächst stabilisiert werden. Wir müssen zu einer Situation gelangen, in der die Konfrontation gesund und respektvoll ist. Dann müssen wir Strategien entwickeln. Es geht nicht nur darum, die Leute von der Straße zu holen, sondern auch, die juristische Seite durchzuarbeiten, die kriminelle Frage bei den Schüssen auf Michael Brown. Danach wird es um die menschlichen Beziehungen und die Ressourcen gehen. Um das Leben in Ferguson.