Berliner Frühling : Plötzlich redselig
Es muss mit dem ersten warmen Tag zu tun haben. Der eher verschlossene und mürrische Berliner taut dann auf und wird plötzlich redselig. Ich sitze im BVG-Bus auf dem Behindertenplatz vorne schräg hinter dem Fahrer und starre träumend ins vorbeiziehende Berlin, als mich völlig unerwartet eine Anrede trifft: „Na, sind Se zufrieden? Alles okay so, wie ick fahre?“ Ich bin so erschrocken, dass ich panisch Zustimmung signalisiere, heftig mit dem Kopf nicke, ein breites Grinsen auflege und ein debiles „äh, jajajaja“ brabble. Vielleicht will der Busfahrer testen, ob ich behindert und überhaupt berechtigt bin, auf dem Platz mit dem Panoramablick zu sitzen. Ich glaube, ich habe den Test bestanden, denn der Busfahrer lächelt, was sehr sehr selten ist, fast so selten wie ein Raucher auf dem Kinderspielplatz vor meiner Tür.
Kaum habe ich den Bus verlassen, höre ich hinter mir eine erregte Stimme: „Hey Arschloch, willst du wissen, was mit dir los ist, Arschloch? Hör gut zu, Arschloch, du bist einfach das Letzte, ja, Arschloch.“ Ich bin beeindruckt von der „Arschloch“-Dichte in seiner Suada und gleichzeitig erleichtert, dass nicht ich gemeint bin, denn als der Berliner mich überholt, spricht er in ein Handy.
In meiner Lieblingsbuchhandlung gehe ich mit meinem Lieblingsbuchhändler vor die Buchhandelstür, damit er eine rauchen kann. Plötzlich sagt eine Frau im Vorbeigehen zu uns: „Stehen zwei Schwule zusammen und haben kein Geld.“ Ich bin weniger von der plötzlichen Anrede überrascht, an die ich mittlerweile gewohnt bin, als vielmehr vom Inhalt der Aussage. Natürlich fällt mir auf die Schnelle nichts ein, was ich hätte antworten können. Als mir nach ein paar quälend langen Minuten immer noch nichts eingefallen ist, gebe ich auf. Vielleicht hatte der Busfahrer ja recht, aber eins ist mir jetzt auch klar: Der Frühling ist ausgebrochen.
KLAUS BITTERMANN