: „Der Hass ist persönlich geworden. Und die Liebe“
MODERNE Die Philosophin Agnes Heller ist die prominenteste Kritikerin des ungarischen Mediengesetzes. Ein Gespräch über Freiheit
■ Geboren: 12. Mai 1929 in Budapest, Tochter jüdischer Eltern.
■ Überleben: Entkam der Deportation während des NS knapp; wurde in Ungarn als Gegnerin des sozialistischen Regimes verfolgt.
■ Beruf: Philosophin, Schülerin des marxistischen Denkers Georg Lukács. Emigrierte 1977 nach Australien, wo sie in Melbourne von 1978 bis 1983 eine Soziologieprofessur innehatte. 1986 wurde sie Nachfolgerin Hannah Arendts auf deren New Yorker Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research.
■ Heute: Lebt sie in Budapest, pendelt zwischen den USA und Ungarn, reist viel.
■ Engagements: Verwandte sich so öffentlich wie heftig gegen die Politik des mit Zweidrittelmehrheit gewählten Rechtspopulisten Viktor Orbán. Aktuell kritisiert sie die neue ungarische Verfassung, die noch vor Ostern verabschiedet werden soll.
INTERVIEW DORIS AKRAP UND JAN FEDDERSEN
Es war nicht so einfach, sich mit ihr zu verabreden: Agnes Heller, 81, hat einen vollen Terminkalender. Schließlich lud sie in ihre Budapester Wohnung, ein ausgebautes Dachgeschoss im Haus der Drucker, Typ: wuchtig gehaltene Gründerzeit. Holte uns unten von der Tür ab, flink und munter – und stellte den mitgebrachten Sekt in den Kühlschrank, um eine kalte Flasche Rosé anzubieten. Rauchen ließ sie zu – „so amerikanisiert bin ich ja nicht“.
sonntaz: Frau Heller, Sie sind gerade aus Vietnam und Kambodscha zurückgekehrt und sind bald schon in New York, um Doktorarbeiten zu betreuen. Hält politisches und philosophisches Engagement fit?
Agnes Heller: Gott im Himmel, ich mache Tourismus. Ich schwimme, dreimal in der Woche, einmal in der Woche klettere ich in die Berge. Und ich mache auch Gymnastik.
Kürzlich waren Sie in Paris und im Europäischen Parlament in Brüssel, um über das umstrittene ungarische Mediengesetz zu sprechen.
Stimmt, aber jetzt gibt es ein neues Problem, die neue ungarische Verfassung nämlich, die jetzt dem Parlament vorgelegt wird. In diesem hat die Regierung Viktor Orbáns eine hinreichende Mehrheit, das heißt, die Verfassung wird auch beschlossen werden.
Was ist an ihr denn problematisch?
Alles. Allein die Präambel! An dieser Stelle der Verfassung, wo sich ein Staat üblicherweise zu Werten wie Freiheit bekennt, haben wir jetzt ein nationales Glaubensbekenntnis. Ungarn wird in diesem Vorwort zur Verfassung nicht mehr als Republik bezeichnet, nur christliche Werte werden als Grundlage Ungarns anerkannt, demokratische und republikanische Traditionen jedoch nicht mal erwähnt. Und: Die ungarische Verantwortung für die Deportation der Juden während des Nationalsozialismus wird geleugnet. Eine ideologisch dilettantische Erzählung. Und auch eine Komödie.
Was will der Ministerpräsident?
Die Konzentration der Macht in seinen Händen. Orbán hat eine schlechte Idee von Macht. Macht wird in einer Demokratie viel eher befördert, wo checks & balances herrscht, also nicht die Unterdrückung der Opposition, sondern deren Einbindung.
Will Orbán Pluralität, Differenz – ja die gesamte europäische Moderne abschaffen, wenigstens in Ungarn?
Natürlich, Orbán möchte die obligatorische Ideologie sein. Er will der alleinige Gesetzgeber sein – und die Räume der Opposition immer enger machen. Und nicht nur das. So wird in Ungarn beispielsweise der Film „Das Turiner Pferd“ von Béla Tarr nicht gezeigt. Der Regisseur, Gewinner des großen Preis der Jury der Berlinale, hat den Fehler gemacht, die Regierung zu kritisieren. Das erinnert an die 1960er Jahre, als in Ungarn zuletzt Filme verboten wurden.
Haben Sie vor fünf Jahren damit gerechnet, dass es so kommen würde?
Wir haben damit gerechnet, dass Orbán seine Macht so weit wie möglich ausbauen würde. Aber selbst in unseren schlimmsten Träumen haben wir uns seine aktuelle Politik nicht ausmalen können. Nicht mal die Rechten.
Ist er denn ein Konservativer?
Orbán hat mit Konservativismus nichts zu tun. Er ist überhaupt kein bisschen konservativ. Er ist ein Demagoge, ein rechtsorientierter, nationalistischer. Die Konservativen sind gegen ihn. Zwar ist Orbáns Partei, die Fidesz, keine rassistische Partei, aber Orbán hat eine Affinität zur extremen Rechten. Er spricht von Revolution.
In einem Interview betonten Sie allerdings, dass Orbán kein Antisemit sei.
Ja, er benutzt Rassismus und Antisemitismus, da ist er pragmatisch. Er ist nicht gegen die Zigeuner. Er spielt mit den Ressentiments, die in der ungarischen Bevölkerung verbreitet sind.
Aus Opportunismus?
Aus Machtinteresse. Orbán ist kein Populist, er bedient nur eine populistische Rhetorik. Anders, als er sagt, verteilt er nichts an die Armen, er bedient wirklich nur die Reichen.
Ist das nicht das Wesen des Populismus?
Der venezolanische Präsident Hugo Chávez agiert ähnlich wie Orbán, aber er tut etwas für die Armen. Es gibt in Europa eben nicht nur die Tradition des Republikanismus, sondern auch die des Bonapartismus. Orbán ist letztendlich eine bonapartistische Figur.
Wenn Sie auf Ihr Leben in Ungarn zurückblicken: War es schon mal schlimmer als heute?
Schauen Sie, ich war in Ungarn während des Holocaust, und da hat man mich beinahe getötet. Dann hatte ich zwei schöne Jahre in der ungarischen Demokratie. Dann kam der Kommunismus, ich war in der Opposition. Ich wurde aus meinem Land hinausgeworfen, man hat mich in meinem Haus, in meinem Garten, überall, wo ich war, ausspioniert. Aus der Zeit habe ich viele schöne Fotos, die die Geheimpolizei von mir gemacht hat. Aber das alles war nie persönlich gemeint. Im Nazismus wurde ich verfolgt, weil ich Jüdin war. Im Sozialismus war ich verfolgt, weil ich gegen das Regime war. Aber nicht ich war verfolgt.
Und heute?
Zum ersten Mal in meinem Leben erlebe ich persönlichen Hass. Ich bekomme SMS von Leuten, die ich nicht kenne, die über mich Sachen sagen, die ich gar nicht wiedergeben kann. Sie könnten jetzt sagen, dass die Technik der Mobiltelefone damals nicht existierte. Dennoch glaube ich, dass heute etwas anders geworden ist.
Begegnet Ihnen auf der Straße dieser Hass?
Und die Liebe! Leute sprechen mich auf der Straße an und sagen: Ich liebe dich, es ist so gut, dass du existierst.
Haben Sie Angst?
Niemals. Ich habe keinen Grund. Es liegt einfach nicht in meinem Charakter, Angst zu haben.
Sie kriegen Hasspost, Sie werden öffentlich diffamiert – beängstigt Sie die Entwicklung Ihres Landes nicht?
Ja, es ist beängstigend. Eben weil es das ist, soll man keine Angst haben.
Befürchten Sie, dass Orbáns Politik im restlichen Europa Schule machen könnte?
Ja. Deswegen habe ich mich ja auch so offen gegen das Mediengesetz ausgesprochen. Es geht nicht nur um Ungarn. Auch Oligarchen in anderen Staaten würden sich freuen, eine Art von Orbanismus zu haben. Orbán hat es selbst gesagt: Wir sind die Ersten, die das gemacht haben, die anderen werden uns folgen.
Hat die EU genug gegen das Zensurgesetz in Ungarn getan?
Ich hatte den Eindruck, dass sich nicht die Regierungen, sondern die Medien in Europa stark dagegen engagiert haben. Wenn sie in einem Land das Maul halten müssen, werden sie es überall tun.
Dennoch kann Orbán sein Programm durchpeitschen.
Ja, er macht in fünf Minuten ein neues Gesetz. Und das dreimal am Tag. Nur in einer Diktatur ist so etwas möglich. Wirkliche Demokratie ist langsam. Mein Lieblingsbeispiel ist Obama. Er hat es in drei Jahren nicht geschafft, eine staatliche Krankenversicherung durchzusetzen, denn es gab Opposition.
Ist das gut oder schlecht?
AGNES HELLER, PHILOSOPHIN
Gut.
Das klingt nach einer sehr liberalen Haltung.
Och ja, ich bin gern eine Liberale.
Bitte? In den siebziger Jahren hieß es, Agnes Heller sei Kommunistin.
Nein, ich war keine Kommunisten, sondern Marxistin. Kommunistin ist eine schlechte Übersetzung von Marxistin. Meiner Meinung sind das aber ganz verschiedene Sachen. Aber damals, in den Zeiten der Neuen Linken, in der Ära von Achtundsechzig, schien das identisch.
Und wie wurden Sie zur Liberalen?
Alle meine linken Kollegen sind doch in den Siebzigern zu Liberalen geworden. Habermas und Foucault ganz bestimmt. Alles, was mich zum Außenseiter gemacht hat, war antiliberal. Lenin wetterte gegen Liberale: Sie sprechen immer nur, sie handeln nie. Und Carl Schmitt, er hat nicht die Demokratie gehasst, sondern den Liberalismus. Alle totalitären Regierungen waren und sind im Wesentlichen antiliberal. Darum bin ich sehr stolz, eine Liberale zu sein.
Aber Sie sind auch Patriotin?
Natürlich.
Und Europäerin?
Ja. Aber ich schätze die Vereinigten Staaten von Amerika mehr als Europa.
Warum?
Weil die Amerikaner nicht zynisch sind. Sie glauben an die Freiheit, an die Demokratie. Sie mögen naiv sein und borniert, aber trotzdem haben sie Hoffnung. Und das ist wertvoll im Vergleich zu den europäischen Bürgern. Der europäische Zynismus hat keinen Glauben – an gar nichts. Und sie haben keine Kinder. Alle meine Studenten in den USA haben drei oder vier Kinder, weil sie an die Zukunft glauben. Und sie können integrieren. Es gibt keine größeren Patrioten in den USA als die Immigranten.
Bitte erklären Sie uns das!
Sie müssen ihre nationalen Traditionen nicht aufgeben, um Amerikaner zu sein. Europa marginalisiert die anderen Kulturen. Europa ist in diesem Sinne impotent.
Wie ja auch Europa im arabischen Frühling zwiespältig agiert hat.
Ich bin mir bei der ganzen Sache nicht so sicher. Ich würde gern vorsichtiger sein. Ich weiß nicht, was in der arabischen Welt passiert. Nicht alle Aufstände sind Revolutionen, nicht alle Revolutionen sind progressiv. Man kann nicht alle Aufstände zusammenmischen.
Sie richten sich alle gegen die herrschenden Cliquen.
Die heutige Kommunikation simuliert Gleichzeitigkeit. Aber Tunesien war anders als Ägypten – und beide sind anders als Libyen. 1968 hat erstmals weltweit gleichzeitig etwas stattgefunden: Die Neue Linke entfaltete sich in Japan, Deutschland, Frankreich, Australien, Amerika. Aber die Agenden waren ganz verschieden. Junge Leute haben im Fernsehen gesehen, was woanders passiert. Es war eine Imitation. Aber jeder, der imitiert, folgt eigenen Interessen.
In Tunesien riefen die Menschen „Liberté, Fraternité, Egalité“, das sind doch universale Interessen?
Ich kenne nur die Bilder, und die sind redigiert, die sind zu einem Sinn gebündelt. Dieselben Bilder suggerieren Simultanität – und das ist dann Propaganda, meine Lieben.
Sie glauben also …
… ich glaube nichts. Ich möchte wissen. Was ich im Fernsehen sehe, ist für mich kein Beweis.
Aber Sie waren im Pariser Mai 68 auch nicht vor Ort.
Ich war in Ungarn, aber ich kannte Leute aus Paris. So wie ich auch den Iran kenne. Ich war dort und habe gesehen, dass es eine Mittelklasse gibt. Und ich wusste, wenn es dort einen Aufstand gibt, dann ist der für die Freiheit, denn in Iran herrscht eine totalitäre Regierung. In Ägypten herrscht derzeit die Armee. Ob die für wirkliche Freiheit sorgt, da bin ich nicht so sicher. Einige Bewegungen mögen fortschrittlich sein, aber wahrscheinlich geht es nur um den Machtwechsel.
Uns kamen die Tränen, als wir den Tahrirplatz in Kairo sahen, wo Millionen Menschen den Sturz Husni Mubaraks feierten.
Das ist schön, aber ich kenne nur die Bilder, und Bilder können lügen.
■ Ungarn: Seit dem 1. Januar gilt in Ungarn ein neues Mediengesetz. Sämtliche Fernsehsender, Radios, Zeitungen und Internetportale, selbst Blogs und in Ungarn verfügbare ausländische Medien stehen seitdem unter der Kontrolle der neu geschaffenen Medienbehörde NMHH. Bei Verstoß gegen die Richtlinien des Gesetzes kann die Behörde hohe Geldstrafen verhängen. Alle Mitglieder der NMHH wurden von der Regierungspartei Fidesz nominiert.
■ Europa: Auf Drängen der EU-Kommission hat die ungarische Regierung vergangenen Monat Änderungen im Gesetzestext vorgenommen, um mehr Pressefreiheit zu gewährleisten. Das EU-Parlament fordert jedoch eine erneute Prüfung, da immer noch nicht sicher sei, ob das Gesetz mit den EU-Grundrechten in Einklang stehe.
Das hat Sie gar nicht berührt?
Ich war nicht gerührt und bin es nicht. Ich fand die Intervention in Libyen falsch, mein Sohn fand sie richtig. Wir haben verschiedene Meinungen, aber wir wissen nicht genug Bescheid. Ich warte ab!
Glauben Sie an Fortschritt?
Nein. An Fortschritt innerhalb eines Staates, einer Kultur – ja. Aber nicht allgemein. Ich glaube, das 20. Jahrhundert hat uns gezeigt, dass Fortschritt nicht existiert. Am Ende des 19. Jahrhunderts glaubten alle an einen allgemeinen Fortschritt, aber dann kamen Stalin und Hitler. Man kann in unserer Welt im Kleinen etwas für den Fortschritt tun – jedoch nicht im Allgemeinen.
Hätte diese Aussage Ihrem Lehrer, dem marxistischen Philosophen Georg Lukács, gefallen?
Lukács hat sich an an die Entfremdungstheorie von Karl Marx gehalten. Der wiederum schrieb im 19. Jahrhundert. Und es war eine schlechte Theorie aus heutiger Sicht. Zu behaupten, dass der Wert von Luft, Wasser oder einem Baum erst dann entsteht, wenn ein Mensch sie bearbeitet, das ist total crazy.
Marx hin oder her – was jeden Linken nach wie vor interessiert: Gibt es eine Alternative zum Kapitalismus?
Keine. Sozialismus ist bereits in die gegenwärtige Tendenz eingebaut. Es gibt Kapitalismus wie Sozialismus. Was Marx auch schon gesehen hat: Im Kapitalismus gibt es Umverteilung, und das ist das sozialistische Moment. Kein Staat in Europa funktioniert ohne Umverteilung. Wenn eine Tendenz die andere ausschließt, gibt es Massenverelendung oder Stagnation. Man braucht beide. Das Maß der Umverteilung fällt verschieden aus – und ist umkämpft.
Leben wir also in einer immer besser werdenden Welt?
Meine Lieben, wir haben keine besondere Situation der Weltgeschichte. Marx glaubte an eine historisch privilegierte Situation, weil sich alles aus dem Ökonomischen ergeben kann. Wir haben aber keine privilegierte Situation, wir sind nicht besser, nicht schlechter. Von der Tendenz wird es besser – für Frauen ist vieles besser geworden.
Sie sind keine Kulturpessimistin?
Viele meinen, unsere Gesellschaften sind einem Verfall ausgesetzt. Die Vergangenheit sei viel besser gewesen – die Menschen gebildeter, die Denker, Maler und Musiker größer, wichtiger. Und wir lebten in einer total kapitalistischen Manipulation, seien Sklaven der Propaganda, der Medien und so weiter. Und das ist nicht wahr.
Was könnte wahr sein?
Dass die Moderne sich weiter entwickeln könnte. Sie ist aufgebaut auf der Idee der Gleichheit der Möglichkeiten. Und wenn die Idee in der Welt ist, hat das eine Bedeutung.
■ Jan Feddersen, 53, ist Redakteur für besondere Aufgaben und leitet mit Doris Akrap, 36, den taz-Kongress ■ Kongress: Agnes Heller wird am Samstag von 17 bis 18.30 Uhr auf dem Podium sitzen. Die Veranstaltung „Zensur in Ungarn – eine Gefahr für Europa“ wird im Netz zu hören sein unter www.taz.de/live.