VOLKSKONGRESS: CHINAS KOMMUNISTEN ENTDECKEN DIE BAUERN : Sozialpolitik für alle
Es war die große Ironie der sogenannten Bauernrevolution Mao Tsetungs, dass sie nach der Machtübernahme 1949 den städtischen Arbeitern mehr gab als den Bauern, denen sie den Sieg verdankte. Für die einen ließ man Krankenhäuser bauen, die anderen überließ man sich selbst. Das ist im Prinzip bis heute so: In China haben 500 Millionen Städter Anspruch auf neun Jahre Schule, Krankheitsversorgung und Mindesteinkommen. 800 Millionen Bauern haben Anspruch auf ein Stück Land, von dessen Erträgen sie Schulgebühren entrichten, Krankheitskosten zahlen und sich versorgen müssen. Das erinnert an ein Apartheidsystem, das die Bauern arm und dumm und die Städter wohlhabend und klug macht.
Umso bedeutender sind die Ankündigungen des chinesischen Premiers Wen Jiabao zum Abschluss des Volkskongresses in Peking. Noch in diesem Jahr will seine Regierung Gesetze vorlegen, die erstmals eine Sozialpolitik für die Mehrheit in Aussicht stellen. In Zukunft soll allen Chinesen ein Mindesteinkommen zustehen, alle sollen gesetzlich krankenversichert werden. Im Zentrum der Sozialpolitik sollten nun „die Verwundbarsten, besonders die Bauern“ stehen. Hinter solchen Worten steht das Streben nach einer politischen Kehrtwende von der kommunistischen Entwicklungsdiktatur, die nur diejenigen förderte, die zum Bruttosozialprodukt beitrugen, hin zu einem modernen Sozialstaat, der sich um die Verlierer des Kapitalismus kümmert. Dazu gehört in China besonderer politischer Mut: Denn so entsteht bei den Bauernmassen ein Anspruch auf Gleichberechtigung. Davor haben sich Kaiser und KP-Chefs bisher immer gefürchtet – schon weil deren Einlösung aufgrund der hohen Bevölkerungszahl utopisch erschien.
Aber Wens Politik ist nicht selbstmörderisch. Gerade hat die KP das Privateigentum gesetzlich schützen lassen. Die verbliebenen Staatsbetriebe werden nur noch ein Fünftel der chinesischen Wirtschaft umfassen. Das Wachstum allein kann deshalb die Legitimität der KP-Regierung nicht mehr sichern. Die neuen sozialen Aufgaben sind für sie überlebenswichtig. GEORG BLUME