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Archiv-Artikel

Ein Stück Stoff von großer Dramatik

TANZ Mit Jefta van Dinthers „Plateau Effect“ findet das Festival Tanz im August in der Volksbühne zu einem letzten Höhepunkt

Das Tuch, das von der hohen Bühnendecke herabhängt, ist mehr als ein Vorhang, viel mehr. Für die sieben Tänzer, die auf der großen Bühne der Volksbühne anfangs davorstehen und bald in die Falten des Stoffs eintauchen, ist es ein Meer, in dem sie versinken und wieder hervortreiben, schwankend und schaukelnd.

Ganz ähnlich wie das Lied, „Friday Night“ von Chinawoman, das nur von einer tiefen und melancholischen Stimme vorgetragen wird, zuerst auf ihren stumm sich bewegenden Lippen Platz nimmt und sie in die Stimme eintauchen lässt, bis es sie schließlich mit sich trägt in einem zugleich traurigen und lustvollen Sog. So beginnt das Stück „Plateau Effect“, das Jefta van Dinther mit neun Tänzern des berühmten schwedischen Cullberg Ballets entwickelt hat. Es gehörte zu den letzten Vorstellungen des Festivals Tanz im August.

Irgendwann hat das Tuch alle Tänzer verschlungen und bläht sich nun wie ein Segel im Sturm. Nah an Naturgewalten sind die Bilder des Stücks gebaut und verblüffend nah an romantischen Bildern des 19. Jahrhunderts. Verblüffend deshalb, weil Jefta van Dinther, der in Schweden und in Berlin arbeitet, und sein Sounddesigner David Kiers bisher vor allem dafür bekannt geworden sind, in ihren Stücken eine große Affinität zur Clubszene aufzubauen und vom Driften des Individuums auf den Wellen des kollektiven Erlebens in Nacht und Klang zu erzählen. Die langsamen und gedehnten Bewegungen aber, mit denen die Tänzer des Cullbergs Ballet in der zweiten Phase des Stücks an dem heruntergelassenen Tuch arbeiten, es vertäuen und dranziehen, sich mit dem ganzen Körper in die Seile legend, erinnern dagegen stark an einen pathetischen Ästhetizismus, mit dem in der Malerei des 19. Jahrhunderts der körperlichen Arbeit gehuldigt wurde.

Segel, Zelt, Fahne

Das Sounddesign mag zwar minimalistisch sein, ist dabei aber auch von tiefen Wellentälern durchzogen, in denen sich die große Geste einnistet. Das Tuch, mit Seilen verbunden, wird dann von den Tänzern, die ihre Bewegungen jetzt beschleunigen und zu laufen und zu rennen beginnen, in viele Richtungen gezogen, umgeschlagen, verwickelt. So entsteht eine sich ständig verändernde Skulptur, die mal an Segel und Schiffe, mal an Baustellen und Zelte, dann aber auch an Fahnen, Umzüge und Monumente erinnert. Teils ziehen alle an einem Strang, teils arbeiten sie gegeneinander, die Stimmung wird katastrophisch, bis die Ruhe nach dem Sturm einkehrt.

In Belem, nahe Lissabon am Tejo, steht ein Denkmal für Heinrich den Seefahrer, errichtet erst 1960 unter dem Diktator Salazar, das ein geblähtes Segel aus Beton mit einer steil aufragenden Rampe verbindet, auf der sich die Helden der portugiesischen Geschichte drängen. Solch eine symbolische Überhöhung der Bewegung des Einzelnen geschieht auch in diesem Tanzstück, das vermittelt über die Taue und den Stoff die Kräfte der Tänzer wie mit großen Vektoren in den Raum zeichnet. Das hat etwas Faszinierendes und zugleich etwas sehr Technisches.

Mit der Einladung von „Plateau Effect“ hat Virve Sutinen, die das Festival Tanz im August erstmals kuratierte, auch an einem Schwerpunkt ihres Programms gearbeitet: der Suche nach der großen Form, den Tanzstücken für eine große Bühne. Für den Choreografen, der bisher eher in intimen Räumen arbeitete, war der Sprung auf eine Bühne für ein Publikum von rund 1.000 Zuschauern ein Schritt, den er handwerklich gut bewältigt hat. Dass sich minimalistische Mittel auch für monumentale Formate eignen, hat er einmal mehr bewiesen. Auf der erzählerischen Ebene allerdings wird man den Verdacht nicht los, dass die Bilder dem Material nur folgten und sich der Zug ins Pathetische daher eher aus Versehen eingeschlichen hat.

KATRIN BETTINA MÜLLER