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Archiv-Artikel

Leerräume zu Freiräumen

WACHSTUMSKRITIK Auf einer Radtour zur Degrowth-Konferenz wurde erkundet, wie produktiv eine Schrumpfökonomie sein kann

Die Degrowth-Konferenz

■ in Leipzig geht bis heute und ist mit knapp 3.000 Teilnehmern die größte bisher. Es ist die vierte solche Konferenz der „politischen Suchbewegung nach einem guten Leben für alle“, die erste in Deutschland. Livestream und Beiträge aus über 400 Veranstaltungen: leipzig.degrowth.org/de.

■ Themen sind auch Außereuropäisches wie zum Beispiel der Gegensatz zwischen Degrowth und den Massenexporten von Rohstoffen aus Lateinamerika. Wissenschaftliches dazu gibt es etwa in Jena (kolleg-postwachstum.de) oder auf dem Blog postwachstum.de.

VON UTE SCHEUB UND ANNETTE JENSEN

Es ist eine bunte Gruppe, die sich zusammengefunden hat: Da ist eine Umweltprofessorin aus Münster, ein pensionierter Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stifung, eine Gründerin von solidarischer Landwirtschaft aus Bonn, ein Mitglied des Bündnis gegen Zwangsräumung in Berlin-Kreuzberg. Zwischen 18 und 72 Jahre sind sie alt und eine Frage interessierte alle 21, als sie Ende August in Potsdam in Richtung Leipzig losradelten, zur Degrowth-Konferenz: Welche Chancen bieten ostdeutsche Leerräume und Schrumpfökonomien? Die politische Radtour hat die Heinrich-Böll-Stiftung organisiert.

Die erste Antwort fand sich im Potsdamer Projekthaus. Ein gutes Dutzend Leute aus der Uckermark hatte die Nase voll „von ständigen Abwehrkämpfen gegen Nazis und Rassisten“ und wollte einen Freiraum für eigene Projekte schaffen.

Mit Hilfe des bundesweiten Mietshäusersyndikats kauften sie 2005 eine leerstehende Fabrikantenvilla samt Grundstück, auf dem sich nun 25 Projekte tummeln: Flüchtlingsinitiativen, eine Jugendbildungsstätte, ein Passivhaus sowie das einzige „Haus der Eigenarbeit“ Brandenburgs, eine Werkstatt für alle. Ob tischlern oder töpfern, nähen, Rad flicken oder Stadtgärtnern: Mittelschichtler mischen sich mit Flüchtlingen, Erwerbslosen und Neureichen. „Jeder kann hier seinen Platz finden“, sagt Mitgründer Holger Zschoge. Dem Kommunegedanken, „wo alle das Gleiche machen“, seien sie nicht zugeneigt.

Räume zum Entwickeln von Fähigkeiten, die im Kommerzkapitalismus brachliegen, bietet auch das Freiland Potsdam. 50 Jugendliche hatten Anfang 2012 die 15.000 Quadratmeter große Fläche mit fünf inzwischen graffitibunten Häusern der Stadt abgetrotzt. Hier werkeln 40 nichtkommerzielle Initiativen, darunter ein Technoclub, ein offenes Künstleratelier, ein freies Radio und ein Wissenschaftsladen.

Letzterer kooperiert weltweit mit Bildungseinrichtungen, um Open-Source-Wissen zur geldlosen Nutzung zu generieren. „Freie Zugänge zum Wissen zu schaffen“, das ist für Initiator Mario Parade der Hauptantrieb, hier zu arbeiten. In der offenen Hightech-Werkstatt kann man mit Lasercutter, 3-D-Drucker und CNC-Fräsen Gegenstände herstellen und so eine dezentrale Produktionsweise jenseits des Kapitalismus vorwegnehmen.

Hinter Potsdam erfahren die Radler die dünn besiedelte Hügellandschaft des Naturparks Hoher Fläming. In einer „essbaren Landschaft“ mit Obstbäumen und Selbstversorgergarten nach Prinzipien der Permakultur liegt das „Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung“ (Zegg), ausgestattet mit erneuerbaren Energien und abwasserloser Pflanzenkläranlage, die nach dem Wunsch der Stadt Belzig nun auch anderswo nachgebaut werden soll.

Nische oder Neuanfang?

Die 100-köpfige Gemeinschaft probierte seit ihrer Gründung 1978 in Westdeutschland fast alles aus, was das Leben hergab: freie Liebe, wilde Kunstaktionen, Festivals; 1991 zog sie in die Brachlandschaft des Ostens. „Manches Experiment würde ich heute nicht mehr machen“, gibt Mitgründerin Dolores Richter zu. Nicht alle im Zegg hielten die interne Konsensdemokratie samt Psycho-Offenbarungs-Foren aus.

Das Zegg, so gestehen es auch jene zu, die dort nicht leben möchten, trägt zur hohen Dichte der Alternativwirtschaft in der Region bei. Die Hofgemeinschaft Lübnitz etwa arbeitet nach den Prinzipien der Solidarischen Landwirtschaft. In Wiesenburg baute eine Genossenschaft den leeren Bahnhof zum Begegnungscafé um. Ein regionales Netzwerk umfasst rund 400 Initiativen und Einzelpersonen und hat seit 2010 sogar eine eigene Regiowährung, den Steintaler.

Sind das Nischen oder erste Anzeichen einer ökosozialen Wirtschaft? Die Radler diskutieren eifrig, umso mehr, als sie Bitterfeld-Wolfen durchqueren, das mit seinem Chemiekombinat in DDR-Zeiten zu den dreckigen Städten Europas zählte. Nach der Wende schrumpfte die Zahl der dort Beschäftigten von 66.000 auf 5.000. Milliardensubventionen hoben die Zahl wieder auf 20.000, berichtet Baudezernent Stefan Hermann. In der Stadt werden nun weiter hochgiftige Chemieprodukte hergestellt. „Wo der Staat sich massiv einmischt, reproduziert er das alte, nicht enkeltaugliche System“, folgert einer aus der Gruppe.

Schrumpfökonomie und Bevölkerungsverlust erlebte auch Dessau. Wie in Bitterfeld riss die Stadtverwaltung leerstehende Plattenbauten ab. Heike Brückner von der Stiftung Bauhaus sitzt im gleichnamigen lichtdurchfluteten Gebäude, schüttelt ihre Locken und erklärt, wie Brachen zum „urbanen Bauernhof“ umgewidmet werden – Gemüseanbau für die Anwohner. Die Radlergruppe hört zu und greift dann selbst zu Schaufel und Hacke, um auf einer Brache im Quartier „Am Leipziger Tor“ einen neuen Kartoffelacker anzulegen.

Doch es beteiligen sich kaum Einheimische. Die Beete finde sie „blöd“, sagt eine jener älteren Frauen, die in DDR-Zeiten das Wohnen in der Platte als Privileg empfanden und Stadtäcker deshalb eher als Symbol sozialen Abstiegs sehen. Ratlos schauen die Radler: Wie bloß kann man es schaffen, mit den Betroffenen zu arbeiten und nicht nur für sie?

Eine Antwort darauf liefert der Verein Landlebenkunstwerk im 400-Seelen-Dorf Quetz, der letzten Station vor Leipzig. Dessen Willkommenskultur begeisterte die Radlergruppe. Christine Wenzel und Veit Urban verwandelten ab 2005 ein leerstehendes Schloss samt Pfarrhof in eine Bildungsstätte besonderer Art, einen Abenteuerspielplatz mit Kletterwald und Baumhäusern, besiedelt von Jugendlichen und Erwachsenen aus allen möglichen Ländern. Einheimische wandern wie selbstverständlich durch den Biogarten. Die Dörfler seien vom ersten Tag an einbezogen worden, „wer zur Tür reinkommt, gehört zu uns“, sagen die Gründer. Kultur komme von Agrikultur, erklären sie, vom lateinischen colere, pflegen; es gehe um eine neue Kultur der Eigentätigkeit und Selbstversorgung für abgewertete Menschen in einer abgewerteten Region. Die Radler sind begeistert: „Ihr arbeitet nicht für, sondern mit dem Dorf“, loben sie. „Ihr macht Leerräume zu Freiräumen.“

■ Die Projekte im Internet:

projekthaus-potsdam.de

freiland-potsdam.de

wissenschaftsladen-potsdam.de

zegg.de

bauhaus-dessau.de

landlebenkunstwerk.de