: Arbeiten gegen die Apokalypse
BEDROHUNGEN Hohe Erwartungen gab es an die nun erschienenen Memoiren Mohammed al-Baradeis. Ihre Lektüre ist beunruhigend
VON MICHA BRUMLIK
Die Zeitläufte zeigen ihn im Schnittpunkt aller wesentlichen Entwicklungen: der arabischen Rebellion, der Angst vor der zivilen Nutzung der Atomkraft sowie der Furcht vor einem künftigen atomaren Krieg. Er, der vielleicht zum ersten Präsidenten eines demokratischen Ägypten gewählt wird, Mohammed al-Baradei, langjähriger Generaldirektor der IAEO und Träger des Friedensnobelpreises 2005, hat Erinnerungen an seine Amtszeit vorgelegt.
Unter dem Titel „Wächter der Apokalypse. Im Kampf für eine Welt ohne Atomwaffen“, erinnert sich al-Baradei im mehreren, in der Regel chronologisch geordneten Kapiteln an jene weltpolitischen Brennpunkte, die der internationalen Gemeinschaft in den vergangenen 20 Jahren Sorgen bereitet haben; Sorgen, dass atomare Habenichtse, die nicht in kollektive Sicherheitssysteme eingebunden sind, in den Besitz solcher Waffen kommen und damit politisch marodieren könnten. Es sind vor allem die Staaten Irak, Nordkorea und Iran, die besondere Sorgen bereiten; und zwar deshalb, weil sie den Atomwaffensperrvertrag unterschrieben haben und gleichwohl nach derartigen Waffen zu streben scheinen; andere Staaten, die schon über Atomwaffen verfügen, den Sperrvertrag aber nicht unterschrieben haben, wie Indien, Israel und Pakistan wirken demgegenüber zwar ebenfalls beunruhigend, scheinen aber nicht das gleiche Krisenpotenzial in sich zu tragen. Dass das mindestens im Falle Pakistans nicht zutrifft, im Gegenteil, zeigen diese Memoiren.
Der nüchterne, stets ausgewogen und im besten Sinne diplomatisch gehaltene Bericht umfasst vor allem jene Jahre zwischen 1991 und 2009, genauer gesagt zwischen 1997 und 2009, in denen der gebürtige ägyptische Anwalt schließlich als Vorsitzender in der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO), wirkte, die sich insbesondere um die Einhaltung des Atomwaffensperrvertrags zu kümmern hat und deren Gutachten die Grundlage für einschlägige Entscheidungen der Vereinten Nationen, zumal des Sicherheitsrats bilden.
In al-Baradeis Erinnerungen ist nachzulesen, dass erste Spuren eines irakischen Atomprogramms nach dem Krieg der Alliierten gegen Saddam Hussein im Sommer 1991 entdeckt wurden, aber auch, dass dieses Programm nicht weiterverfolgt wurde und – wie inzwischen bekannt wurde – die Behauptung der USA, Irak halte „Massenvernichtungsmittel“ vor, nur Anlass zu einem anders motivierten Angriffskrieg der USA gegen den Irak bildeten.
Schon vor Erscheinen dieses Buches war ja bekannt, dass die Beziehungen zwischen al-Baradei, der IAEO und den USA nicht die allerbesten waren; nun, mit diesen Memoiren, kommt das ganze Ausmaß dieser Abneigung zum Vorschein. So ist überhaupt nicht zu bezweifeln, dass wenigstens die USA der George-W.-Bush-Administration in al-Baradei einen Feind gesehen haben, den sie mit intriganten Mitteln auszubremsen versuchten.
Die Erinnerungen al-Baradeis bezeugen sein Misstrauen vor allem gegenüber dem Iran, dem er unter dem Titel „Taqqia“ ein Verhalten attestiert, das für einen Diplomaten deutlicher nicht sein könnte. Unter „Taqqia“ wird im Islam jene zur Rettung der eigenen islamischen Existenz bemühte Lüge verstanden, die im Unterschied zu allen anderen Lügen als Ausnahmefall theologisch, moralisch erlaubt ist und die im antimuslimischen Diskurs die grundsätzliche Verlogenheit von Muslimen bezeugen soll.
Gewiss, auch al-Baradei misstraut dem Iran, setzt aber, anders als neokonservative Hardliner in den USA und vor allem israelische Politiker bis heute, eher auf Verhandlungen denn auf Drohungen mit einem Militärschlag. So hat er auch Irans Präsidenten Ahmadinedschad auf dessen antisemitische Holocaustleugung hingewiesen und ihm zu bedeuten versucht, wie sehr diese Haltung rationale Verhandlungen zum eigenen Schaden Irans beeinträchtigt.
Die oftmals sehr trockenen, höchst fachlichen Ausführungen des Buches werden immer wieder durch beinahe wie Reportagen wirkende Abschnitte unterbrochen. Das beeindruckendste und zugleich für Leser mit politischer Einbildungskraft gruseligste Kapitel beschäftigt sich mit Personen und Regionen, die im Windschatten der Aufmerksamkeit liegen. Im siebten Kapitel, al-Baradei betitelt es ironisch „Der Atombasar von A. K. Khan“, lernen wir den pakistanischen Atomphysiker A. K. Khan kennen, der nach Jahren des Studiums und der Forschung in Europa von Pakistan aus einen ideologisch befeuerten Schwarzmarkt für Komponenten zum Bau für Atomwaffen unterhielt, gegen nationales und internationales Recht verstieß, damit Unsummen verdiente und sich von Dubai bis in die Schweiz, von Südafrika nach Malaysia vernetzte, um schließlich auf Druck der USA vor laufenden Kameras in Pakistan seine Aktivitäten zu beichten. Nach einigen Jahren unter Hausarrest wurde dieser Schwarzhändler des Todes vom pakistanischen Präsidenten Musharraf ohne weitere Verhandlung begnadigt.
Leser, die al-Baradeis Buch Zeile für Zeile studieren, werden mit einer genauen Einführung in die sehr komplexe Atompolitik der internationalen Gemeinschaft ebenso belohnt wie mit der Einsicht, dass auch die IAEO allen Bemühungen um wissenschaftliche Objektivität zum Trotz letzten Endes auch „nur“ ein politisches Gremium ist. Mohammed al-Baradei hat sich um dieses politische Ziel, die Minderung des Risikos von Atomkriegen, verdient gemacht und seinen Friedensnobelpreis, anders als etwa Präsident Obama, daher zu Recht erhalten.
Was an dem Buch in diesem Frühjahr 2011 besonders aufrüttelt, ist die Erkenntnis, dass die Risiken der militärisch genutzten Atomkraft dem Schock von Fukushima zum Trotz ungleich größer und sehr viel schwerer zu beherrschen sind als ihre rein industrielle Nutzung. Baradeis Buch mahnt, diese Risiken nicht zu übersehen und ihrer Minderung mindestens so viel Kraft zu widmen wie dem Ausstieg aus der Atomenergie.
■ Mohamed al-Baradei: „Wächter der Apokalypse. Im Kampf für eine Welt ohne Atomwaffen“. Übers. v. Jürgen Neubauer. Campus Verlag, Frankfurt 2011, 366 S., 24,90 Euro