: Ein Fenster zum Fluss
AMAZONASKREUZFAHRT Auf dem Luxusliner in den größten Nationalpark Perus
■ Schifffahrt: Reisen durch das Amazonasgebiet mit drei Übernachtungen in einer der Suiten auf der „Delfin II“ kosten bei Doppelbelegung ab 1989 Dollar. Vier-Nächte-Reisen kosten ab 2365 Dollar. www.amazoncruises.com
■ Anreise: Von Iquitos, der größten Stadt im tropischen Regenwald des südamerikanischen Anden-Staates Peru, bietet die Reederei einen Bustransfer (knapp drei Stunden Fahrt) zum Anleger in Nauta an.
■ Reisezeit: Termine sind auf der Website der Reederei vermerkt. Sowohl in der Regenzeit (Dezember bis Mai) wie in der Trockenzeit (Juni bis November) legt die „Delfin II“ ab.
VON STEFAN ROBERT WEISSENBORN
Im Lichtkegel blitzt ein roter Punkt auf. Jesús hebt den Arm. Der Mann am Ruder drosselt die Geschwindigkeit und lässt das Boot ans Ufer gleiten. Es ist dunkel geworden. Jesús scannt das Wasser mit der Lampe ab. Da sind sie wieder, die reflektierenden Punkte – diesmal zwei. Die Touristen klumpen sich Backbord zusammen und bringen das Boot fast zum Kentern. Wird es ein besonders großes Exemplar sein? Nein, es ist ein Baby! Inmitten der dichten Wasserpflanzen badet ein kleiner Kaiman. Bewegungslos zwar, aber immerhin. Senkrechte Augenschlitze, hornige Haut und Kindchenschema? Fehlanzeige. Gäbe es keine Bezugsgröße, wie die Spinne auf dem Blatt daneben – vom Antlitz her könnte er ausgewachsen sein. Es blitzt in einem fort, die Gäste starren auf die Displays ihrer Digicams und grummeln vor Genugtuung – Gewitter scheint das kleine, vielleicht 30 Zentimeter lange Wesen gewöhnt zu sein – wenn auch anderer Natur.
Natur? Wir sind mittendrin. Zwar meist in der antiseptischen Atmosphäre einer nicht nur für örtliche Verhältnisse utopisch teuren Amazonaskreuzfahrt, auf der die mit Mahagoniholz ausgeschlagenen Kajüten den Nebel der Duftspraydose atmen. Aber der Urwald des Amazonastieflandes gilt mit mehr als 20 Millionen Tier- und Pflanzenarten als das artenreichste Ökosystem der Erde – und das, obwohl dieses Mekka durch menschliche Beutezüge gigantische Flächen eingebüßt hat.
Mit der „Delfin II“, einem Flusskreuzfahrtschiff im klassischen Stil mit 14 Suiten, Kiellegung 2009, gefertigt aus heimischem Capirona-Holz, werden wir uns über 300 Kilometer vom Anleger im Dschungelvorposten Nauta entfernen – den Luxus mitnehmen und finden. Drei Tage und drei Nächte entlang des Rio Ucayali, der erst zusammen mit dem Rio Maranon den eigentlichen Amazonas bildet, in Seitenarme, die Namen wie El Dorado tragen, zum Schwarzen See, der zum Bade locken soll – den vermeintlichen Gefahren, die Namen tragen wie Anakonda oder Piranha, zum Trotz. Ziel: La Reserva Nacional Pacaya Samiria, der größte Nationalpark Perus.
Der Motor des Beiboots verstummt. „Lauscht dem Sound des Dschungels“, sagt Guide Jesús. Er schiebt sich die Zunge durch die Lippen und legt die Stirn in Falten. Seine Worte wirken zunächst kitschig, aber das Zirpen, Rasseln, Pochen, Pfeifen, Tackern und Surren ist beeindruckend irreal. Zu sehen ist nichts – bis auf Baumsilhouetten, die im Mondlicht glänzen und rein morphologisch an gigantischen Brokkoli erinnern. Oder die Schattenspiele hinter Plastikfolien. Es sind die glimmenden Camps der Ribereños, die ihre von Ufer zu Ufer gespannten Netze überwachen. Rund 100.000 dieser mit dem Gewässer verheirateten Menschen leben an den Flüssen. Auf dem Rückweg zur „Delfin II“ tragen die Gäste kastige Klarsichtbrillen gegen die Insekten im Fahrtwindtunnel und sehen damit aus wie Rapper und die Neunzigerjahre-Eintagsfliege McHammer („U can’t touch this“).
Nicht nur wegen der langen Anreise aus Europa ist Amazonien nicht mal eben zum Vorbeigucken, denn zur Tierbeobachtung braucht es Geduld und messerscharfe Blicke. Daran ändert auch das Tageslicht nichts. Das Leben, so fühlbar es ist, findet auch bei Hellem im Verborgenen statt. Ausnahme bilden Massen an Vögeln, die in bester Hitchcock-Manier den Himmel verdunkeln. Jaribus begleiten das Boot wie Möwen einen Nordseekutter. Etliche Arten sind selbst Forschern noch nie begegnet. Und das gilt auch für Menschen – zwei Millionen Ureinwohner gibt es im Amazonastiefland, erzählt Jesús. 20 Prozent hätten noch nie Kontakt zur „Zivilisation“ gehabt. Darunter Menschen, die sich als Schmuck Knochen durchs Gesicht schieben, Frauen von anderen Stämmen klauen und Schrumpfköpfe an die Bäume hängen und: Kannibalen.
Unzivilisiert, das war gewissermaßen auch Jesús einmal. Er wurde in der Wildnis geboren, 15 Kilometer nördlich von Iquitos, wo seine Familie vom Stamm der Bora noch lebt. Das erzählt er an Bord der „Delfin II“, während einer der Vorträge, die die Bord-Guides, sämtlich in adrette Reedereiuniformen gesteckt, abends einstreuen. Einige der gut zwei Dutzend Passagiere haben auf den Polstermöbeln Platz genommen und horchen gebannt. Er sei im Urwald aufgewachsen, habe harte Füße vom unbeschuhten Laufen bekommen. Sei bei Krankheit mit der Medizin des Waldes geheilt worden. Zum Beispiel mit der Milch des Ficus-Benjamini-Baumes gegen Parasiten.
Palmwurzeln schützten gegen Malaria. Der Saft des Bismia-Baumes gegen Mückenstiche. Die Milch einer tropischen Weinsorte heilte offene Wunden. Wohl an die 3.000 Medizinpflanzen habe sein Großvater gekannt, ein weißer Schamane, der anders als die schwarzen den Menschen Gutes wollte. Zur Selbstreinigung verabreichte der Alte Jesús den Ayahuasca-Trunk, der zwölf Stunden auf einem Feuer geköchelt hatte. Das halluzinogene Zeremonien-Gebräu der Indios ließ Jesús nachts von Weißen träumen. Er entschloss sich, in die USA zu gehen. In einem Zoo in Texas kümmerte er sich um die Reptilien, arbeitete für National Geographic und an der Uni von Texas. Seine ihm versprochene Frau heiratete einen anderen. „Ich bin mit meiner Arbeit verheiratet“, sagt Jesús heute.
Jesús und Renny, der andere Guide, eben noch mit Fernglas vor den Augen, um auf Faultiere oder Affenbanden hoch im Geäst zu verweisen, haben weiße Handschuhe übergestreift. Während man an einen Michael-Jackson-Fimmel der Besatzung denken könnte, haben die Textilien einen Sinn: Sie wirken beruhigend auf die Psyche der Gäste im Beiboot, die alsbald Fruchtspieße, Muffins und frisch gepresste Säfte verkosten, die Jesús und Renny aus einer Kühltasche zaubern.
In den Bäumen im nahen Sumpf sitzen die flugfaulen Stinkvögel – es gibt sie seit Millionen von Jahren. Weiße Handschuhe sind auch am Abend im Schiffsrestaurant das Distinktionsmerkmal. Die Küche ist kreolisch angehaucht und exzellent. Man fühlt sich wohl an wohlfeil dekorierten Tischen. Nachdenklich stimmt vielleicht noch eine Information aus Jesús’ Mund: Ein Aberglauben lasse die Ribereños nur unabgekochtes Wasser aus dem Amazonas trinken. Deswegen seien sie kleinwüchsig und hätten Blähbäuche. An Bord der „Delfin II“ vergisst man so etwas erschreckend schnell.
Mit vollgeschlagenen Bäuchen versinken die Passagiere müde im Kingsize-Bett. Die großen, über zwei Meter breiten Kabinenfenster zum Fluss sind mit schweren Gardinen verhangen. Wilson, der emsige und ein bisschen unterwürfige Schiffsjunge, hat die Handtücher zu harmlosen Tieren gefaltet. Am Morgen behindert ein Vorhang aus Regen die Weitsicht, das Dickicht am Ufer betört den Sehsinn milchig grün – vom Kingsize-Bett aus ein Vergnügen! Der Bug des Flusskreuzfahrtschiffs schneidet eine Furche durch den wasserreichsten Fluss der Welt, die sich jäh wieder verschließt. Braun und reich an schlammigen Sedimenten ist die Brühe.
„Delfine“, ruft Jesús nach dem Frühstück. Runde Buckel durchbrechen die Wasseroberfläche. Einer zeigt sein höckeriges Antlitz. Es ist ein rosafarbener Flussdelfin, dann noch einer. Die Kameralinsen sind immer zu spät. Wohl wegen dieser Unberechenbarkeit leiden die Tiere an einem beträchtlichen Imageschaden: „Sie sind böse“, sagt Jesús. „Wir essen ihr Fleisch nicht, weil man davon verrückt wird – oder impotent. Außerdem: Ist eine Frau ‚ungeklärt‘ schwanger, war’s der Delfin in Gestalt des ‚Encantado‘, eines jungen, charmanten Mannes. Also haltet euch fern.“ Immerhin – gejagt werden die Flussbewohner nicht. Rätselhaft bleibt, warum der Reeder seine Schiffe ausgerechnet auf „Delfin“ taufte.
Amazonaskreuzfahrt – das ist auch so ein Begriff, der schon beim Katalogwälzen auf dem heimischen Sofa Fernweh auslöst. Doch so majestätisch der Strom in seiner Breite von bis zu zehn Kilometern auch ist, das wahre Vergnügen an dieser Reiseform sind die Trips in die Flussarme. Die „Delfin II“ hat an der Mündung des Seitenflusses El Dorado festgemacht. Die Sonne steht im Zenit. Es geht wieder ins Beiboot zu Jesús. Fische, die während der Regenzeit in den überschwemmten Wäldern geboren wurden und die ersten Monate ihres Lebens zwischen Geäst verbrachten, kommen in der Trockenzeit die Flüsse hinab. Reiche Beute für die Unterwasserjäger an den Zuflüssen. In den Wipfeln baumeln wie Ohrringe die Nester des Oropendula-Vogels. Von Ast zu Ast, von Liane zu Liane tanzen Totenkopfaffen und scheuchen die Insekten auf – für die Vögel beste Gelegenheit auf eine Mahlzeit. Das Ufer ist durchlöchert. Es sind die trockengelegten Geburtshöhlen der Welse. „Haltet Ausschau nach Anakondas, sie liegen am Ufer, wenn es heiß und trocken ist.“
Mit Bildern versorgt uns heute jedoch nur die Fantasie. Das Boot hat nach einstündiger Fahrt flussarmaufwärts den Schwarzen See (Lago Yanayaco) erreicht. Jesús und Renny kramen als Anakonda-Ersatz – so der Scherz an Bord – bunte Styroporwürste hervor und lassen ein Leiterchen ins Wasser. Die Selbstverständlichkeit ihrer Aufforderung lässt manchen Gast ins Wasser springen. Dann Aufschreie. Denn irgendetwas zwickt. Es sind nur kleine Fische. Und Piranhas? Die werden die Fremdlinge später verspeisen. Am Abend drapieren weiße Handschuhe im Innern der „Delfin II“ ein gegrilltes Exemplar auf dem Buffettisch.
■ Diese Reise wurde finanziert von Delfin Cruises und dem peruanischen Fremdenverkehrsamt