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Archiv-Artikel

„Hähnchen für 3,50 sind unmoralisch“

GEWISSEN Rainer Erlinger berät in Fragen der Moral. Und sagt, man müsse sie neu denken

Rainer Erlinger

■ Person: Dr. Dr. Rainer Erlinger, 45 Jahre, promovierter Jurist und Mediziner. Er war sowohl Anatom und Chirurg als auch Anwalt im Medizinrecht. „Dieses gedankliche Arbeiten in Jura hat mir immer sehr gut gefallen“, sagt er.

■ Tätigkeit: Vor neun Jahren kam er zum Magazin der Süddeutschen Zeitung. Seither eliminiert er als Autor der Rubrik „Gewissensfrage“ die moralischen Unsicherheiten seiner Leserschaft. Der gebürtige Bayer und Exmünchner Rainer Erlinger lebt seit einigen Jahren in Berlin.

■ Publikation: Gerade im Frankfurter S. Fischer Verlag erschienen: „Moral. Wie man richtig gut lebt“, 364 Seiten, 19,95 Euro

INTERVIEW KAI SCHLIETER

Hier oben auf dem Prenzlauer Berg in Berlin wohnen die Menschen, die sich ihren moralisch korrekten Lebensstil etwas kosten lassen können und das auch nicht verbergen. Biomärkte satt. Und passenderweise wohnt hier auch der Mann – die Kirche um die Ecke –, der sich darauf spezialisiert hat, moralische Fragen zu beantworten: Dr. Dr. Rainer Erlinger. Der Arzt und Jurist hat gut zu tun. Werte sind wieder gefragt, Erlinger benötigt für seine Moralarbeit mittlerweile die Unterstützung einer Hilfskraft. Pro Woche beantwortet er eine Frage, pro Antwort – rund 2.300 Zeichen – liest er etwa zwei bis drei Bücher.

taz: Herr Erlinger, darf man sich über den Tod eines Menschen freuen?

Rainer Erlinger: Sie meinen Osama bin Laden? Ich glaube, man kann einem Menschen, der am 11. September einen Angehörigen verloren hat, kaum vorwerfen, wenn er sich über den Tod dessen, der das zu verantworten hat, freut. Man kann sich auch über die Folgen eines Todes freuen, wenn etwa die Welt dadurch sicherer wird. Man kann meines Erachtens auch Genugtuung und damit so etwas wie Freude empfinden, wenn ein Verbrecher nicht ungestraft davonkommt. Aber über den Tod eines Menschen selbst sollte man sich streng genommen aus moralphilosophischer Sicht nicht freuen. Auch wenn ich zugeben muss, dass man mit dieser Auffassung spätestens bei der Frage, ob man sich über den Tod Hitlers freuen durfte, an seine Grenzen stößt.

Und ist der Militäreinsatz zur Unterstützung der Aufständischen in Libyen moralisch geboten?

Der Ausgangspunkt ist für mich das Selbstbestimmungsrecht der Menschen und Völker. Und ich persönlich habe eine bestimmte Vorstellung davon, welche Werte für mich wichtig sind: Demokratie und Selbstbestimmung beispielsweise. Das kann man anderen aber nicht aufdrängen.

Wenn man das nun auf eine Person herunterbricht: Darf man jemanden mit Macht davon abhalten, Macht über andere auszuüben?

Das ist die Frage der Nothilfe zugunsten Dritter. Die würde ich schon sehen. Unter bestimmten Umständen darf man da eingreifen oder muss es sogar.

Aber bei Staaten gilt das nicht?

Schon, aber da ist man dann schnell bei einer Weltpolizei. Wenn eine übermächtige Allianz wie die Nato von außen entscheidet, was richtig ist, und eingreift, dann ist das wieder eine Machtfrage.

Das heißt, im politischen Kontext ist es schwieriger, eine Institution zu finden, die Regeln definiert?

Die haben wir mit der UNO und dem Weltsicherheitsrat. Natürlich wünscht man sich das Weltparlament. Und wer die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte liest, ist sehr überrascht, dass dieses tolle Dokument so weit anerkannt wurde. Das würde man heute wahrscheinlich nicht mehr annähernd durchkriegen. Keine Chance.

Weil die Welt unzivilisierter geworden ist?

Nein, das hängt vermutlich mit der Entstehungsgeschichte nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges zusammen. Ich meine, dass die Welt heute deutlich zivilisierter geworden ist. Das sieht man gerade in Nordafrika. Das sind alles Demokratiebewegungen.

Noch bis vor wenigen Monaten hätte das kaum ein zivilisierter Demokrat für möglich gehalten.

Ja, viele schreiben, dass das alles gar nicht in diese Kulturen passt. Aber Demokratie ist die Selbstbestimmung über das Gemeinwesen und damit ein sehr hoher moralischer Standard. Deswegen bin ich trotz aller Gewalt positiv angetan.

Barack Obamas Vorgänger, George W. Bush, ist mit seinem missionarischen Eifer gescheitert. Ist Demokratie dennoch allgemein gültig erstrebenswert?

Ich glaube schon, denn die Demokratie leitet sich von der Freiheit, Gleichwertigkeit und der Gleichwürdigkeit des Menschen ab. Welche Form die Demokratie hat – vielleicht auch eine Stammesdemokratie –, das ist eine andere Frage. Es muss nicht immer die parlamentarische Demokratie sein, sie muss nur die Grundwerte gewährleisten.

Für Politik gibt es nur Macht oder keine Macht. Moral ist da nur Lametta, oder?

Ich vertrete eher die These, dass Politik Moral ist. Moral definiere ich als die Grundsätze, die unser Zusammenleben bestimmen. Und Politik ist die praktische Umsetzung dieser Grundsätze. Eine gute Politik ist moralisch, und eine schlechte Politik ist unmoralisch. Es gibt fast keine dritte Möglichkeit. Aber es geht auch um Macht, und das beinhaltet immer die Gefahr der Korruption.

Moral führt dann mitunter zu Unmoralischem?

Die Frage ist immer: Was darf man bestimmen, und was ist der Bestimmung durch Einzelne enthoben?

Gibt es eine Moral, die von Kultur und Zeit unabhängig gelten kann?

Das Wort Moral kommt von mores: die Sitten und Gebräuche, das Althergebrachte und Übliche. In dieser Sichtweise – die nicht meine ist – gibt es nicht nur eine Moral. Es gibt aber Grundsätze, an erster Stelle etwa die Würde des Menschen, die nicht verhandelbar sind.

Der GAU von Fukushima hat deutlich gemacht, dass Japaner bereit sind, ihr Leben für die Gemeinschaft zu opfern. Hier ist die Moral Körperverletzung.

Es handelt sich um sogenannte „supererogative Handlungen“. Das sind Handlungen, die zu gut sind, als dass man sie von anderen verlangen könnte. Sein Leben zu opfern, um den Reaktor zu bändigen und eine noch größere Katastrophe vom Land abzuwehren, ist eine Handlung, die gut ist, aber eben so gut, dass man sie nicht verlangen kann. Man kann die Selbstaufopferung nicht einfordern. Abgesehen von der Frage, inwiefern das wirklich freiwillig ist.

Hängt das jetzt von der besonderen Kultur der Japaner ab?

Moral ist ja abhängig von den Regeln, die in einer Gemeinschaft anerkannt sind. Andererseits geht man heute davon aus, dass ein bestimmter Grundsatz von richtig und falsch auch ererbt ist. Das hat sich in der Säuglingsforschung gezeigt, wo bestimmte Formen des Helfens so früh auftreten, dass sie nicht erlernt sein können.

Wieso beschäftigen Sie sich eigentlich so intensiv mit Moral?

Mein Interesse kommt unter anderem aus der Rechtsphilosophie: Was sind Gesetze, und wann sind Gesetze berechtigt? Man merkt es mir wohl an, dass ich aus der Ecke komme?

Sie nehmen Fragen auseinander, erklären die einzelnen Elemente und verbinden das zu einem Ganzen. Sehr strukturiert.

Ja, da kommt auch der Anatom durch. Das Sezieren. Aber ich glaube, dass ich prinzipiell zu einer Anerkennung von Gesetzen neige. Man braucht einfach bestimmte Regeln für das Zusammenleben.

Verhalten sie sich moralischer als andere?

Nicht unbedingt, auch wenn meine Grundhaltung wohl schon immer eine grundsätzlich moralische war. Mich hat zum Beispiel schon immer wahnsinnig geärgert, wenn sich Leute damit brüsten, dass sie bei einer Versicherung etwas falsch eingereicht haben.

Was ist nach so langer Beschäftigung Ihre Essenz von Moral?

Die gegenseitige Achtung und Anerkennung als Mensch. Pathetisch formuliert: Du bist Mensch, so wie ich Mensch bin. Wir gehen gemeinsam unter – oder keiner.

Wann haben Sie das bemerkt?

Das zeigt sich an vielen Stellen, auch im Alltag. Etwa bei der Frage, ob man jemand das Grüßen verweigert, den man verachtet.

Beim Grüßen?

Indem man wortlos an jemandem vorübergeht, den man kennt. Ja, das ist eine Kleinigkeit. Aber durch das Nichtgrüßen erkenne ich denjenigen nicht mehr als meinesgleichen, also als Mitmensch an. Das geht nicht. Man kann jemanden unterkühlt grüßen, aber man kann nicht sagen: „Du bist nicht mehr da.“ Die Achtung vor jemandem als Mensch muss bleiben, auch wenn man ihn verachtet.

Sie beantworten seit neun Jahren Leserfragen zum Gewissen. Was treibt die Leute um?

In letzter Zeit tatsächlich immer stärker die Umweltfrage.

Ist Atomkraft unmoralisch?

Ja. Die Risiken sind bereits schwer zu vertreten. Und bei einer Technologie, die die nächsten zigtausend Generationen mit radioaktivem Müll belastet, fällt mir nicht ein, wie man die vertreten könnte. Das geht einfach nicht. Ganz kalt, ohne jegliche Empörung. Das gilt aber entsprechend auch für den Verbrauch der fossilen Rohstoffe.

Funktioniert Moral bei Menschen nur im persönlichen Umfeld?

Der Mensch war lange in seiner Entwicklungsgeschichte in kleinen Stammesverbänden unterwegs, deswegen haben wir eine Nähemoral. Wir tun uns schwerer, jemand zu verletzen, dem wir in die Augen schauen. Wir haben aber weniger Probleme, wenn wir den anderen nicht mehr sehen. Uns fehlt auch das Gefühl für eine intergenerationelle Moral, eine Moral, die auch auf die Zukunft ausgerichtet ist.

In modernen Gesellschaften gibt es für alle Bedürfnisse Systeme, die auf diese spezialisiert sind. Man muss nicht mehr selbst Tiere erlegen oder einen Draht zum Jäger haben, um an ein Steak zu kommen. Ein gutes persönliches Verhältnis ist zum Überleben nicht nötig. Das sind miese Bedingungen für Moral nach Ihrem Verständnis.

Das Problem ist, dass wir dafür eben kein Gefühl entwickelt haben. Wir importieren unsere Waren und exportieren unseren Müll, das heißt, wir sehen beides nicht mehr, und da beginnt das moralische Empfinden zu versagen. Man ist also darauf angewiesen, das alles auf die moralische Verstandesebene zu bringen.

Fortschritt ist moralfeindlich?

Nein, empfindungsfeindlich. Wir müssen unsere Moral neu reflektieren, wir müssen sie mit diesen neuen Bedingungen in Einklang bringen.

Moral ist demnach eine Frage der Bildung?

In dem Sinne, dass man sich nicht mehr auf die Empfindungen verlassen kann, sondern Wissen über Fakten und Zusammenhänge braucht, muss man das so sagen, ja.

Eine korrekte Ernährung kostet Geld. Sind Hartz-IV-Empfänger gezwungen, sich unmoralisch zu verhalten?

Lohas können es sich leichter machen, mit entsprechend viel Geld richtig zu leben. Das aber widerspricht dem zentralen Grundsatz von Kant, dass nur richtig ist, was man sich widerspruchsfrei als allgemeines Gesetz denken kann. Wenn ich aber genau weiß, dass sich mein Verhalten nicht verallgemeinern lässt, weil es sich viele schlicht nicht leisten können, dient es in erster Linie meinem Wohlbefinden.

Demnach wären Hähnchen im Plastiksarg auch okay?

Bei Tieren ist es anders, weil es Individuen sind. Wenn ich ein Hähnchen für 3,50 Euro aus der Tiefkühltruhe nehme, dann weiß ich, dass dieses spezielle Hähnchen meinetwegen ein miserables Leben hatte. Und weil es ein leidensfähiges Wesen ist, kann ich das nicht vertreten.

In der Konsequenz müssen Hartz-IV-Bezieher beim Fleisch in die Röhre schauen?

Die Frage ist: Lässt sich Tierquälerei – und das ist die industrielle Massentierhaltung – rechtfertigen, um billiges Fleisch zu produzieren? Meiner Ansicht nach: nein. Deshalb kommt man nicht darum herum: Wenn man kein Geld für artgerecht gezogenes Fleisch hat, muss man den Fleischkonsum entsprechend reduzieren.

Wohlhabende haben es auch bei der Moral leichter?

Vieles ist für die, die mehr Mittel haben, leichter, das muss man zugeben. Das findet man schon bei Aristoteles.

Ist denn Profitmaximierung moralisch verwerflich?

Die Maximierung schon. Das beinhaltet ja, etwas auf die Spitze zu treiben – und dann muss man anderes vernachlässigen. Eine Gewinnsteigerung würde ich nicht als moralisch problematisch einstufen. Das Verfolgen eigener Zwecke ist legitim und sogar positiv. Das ist zum Überleben notwendig und auch für eine gesunde Persönlichkeit wichtig. Erst wenn es zulasten anderer geht, indem ich ihnen schade oder sie vernachlässige, wird es negativ.

Warum verstärkt sich in einer modernen Welt etwas so Antiquiertes wie der Wunsch nach Moral?

Weil die vorgegebenen Regeln schwächer werden. Während es früher berufene Definitionsinstanzen gab – die Kirche etwa oder die Nachbarschaft –, gibt es solche Kontrolle heute kaum noch. Weil wir aber keinen Zustand ohne Moral wollen, benötigen wir etwas anderes, und das ist die Reflexion über Moral. Das ersetzt, was früher in unhinterfragbaren Regeln vorgegeben worden ist.

Dann wären Sie ein Pfarrer. Erteilen Sie Ihren Lesern die Absolution?

Das kann und will ich natürlich nicht. Aber es gibt gelegentlich diesen Wunsch nach Absolution: Manchmal stellen mir Leute Fragen, die etwas getan haben, von dem sie genau wissen, dass es falsch war. Durch die Argumentation ihrer Frage wollen sie erreichen, dass ich sage: Das geht schon in Ordnung. Ansonsten geht es oft einfach darum, dass die Menschen die Außensicht brauchen. Ein guter Anwalt vertritt sich auch nie selbst, weil man zu sehr in der eigenen Sicht verhaftet ist.

Gruselt Sie diese Sehnsucht nach festen Maßstäben, an denen die Menschen ihr Leben ausgerichtet haben wollen?

„Eine gute Politik ist moralisch, und eine schlechte Politik ist unmoralisch. Es gibt fast keine dritte Möglichkeit“

Im Gegenteil, aber mich gruselt, wenn man die Entscheidung einem anderen Menschen überantworten möchte. Die Sehnsucht nach der Instanz finde ich komisch. Diese Sehnsucht etwa nach den alten Politikern, die teilweise nur orakelhaft irgendwelche Brocken hinwerfen – und das wird wie eine Erleuchtung angesehen.

Was sind die wichtigsten moralischen Grundsätze, die Kultur und Zeit überdauern?

Die Achtung, das Verständnis und die Rücksicht. Die Achtung ist der Kern, ich muss jeden Menschen als ebenbürtig achten. Dann lösen sich viele Fragen etwa zur Toleranz und zur Lüge und zum Sozialen. Die zweite Stufe ist das Verständnis, indem ich sage, ich achte nicht nur jeden Menschen, sondern auch seine Individualität. Bis zu dem Punkt, wo er über seine Individualität die anderer missachtet. Individualität kann nicht heißen, ich unterdrücke andere Leute. Und als drittes die Rücksicht, sie erleichtert das tägliche Leben .

Wie abgehoben ist es, sich beruflich mit Fragen der Alltagsmoral zu beschäftigen?

Angesichts des Elends in der Welt ist die Frage teilweise zutreffend. Man darf aber die großen Probleme nicht als Ausrede dafür verwenden, dass man sich in den kleineren Dingen falsch verhalten darf. Einerseits die Weltarmut bekämpfen und dann seine Frau oder seinen Mann mies behandeln.

Nach dem Recht der Scharia kann es geboten erscheinen, seine Frau zu züchtigen. Darf man das moralisch verurteilen?

Darüber habe ich lange nachgedacht – ob man nicht seine eigenen Maßstäbe anderen überstülpt – und bin letztlich zu dem Schluss gekommen: ja. Menschen sind ungeachtet ihres Geschlechts gleichwertig, und das Geschlecht ist kein moralisch vertretbarer Diskriminationsfaktor. Auch wenn das vielleicht anders im Koran oder in der Bibel steht.

Stehen Moral und Freiheit in einem zwiespältigen Verhältnis?

Ich glaube, Moral und Willkür stehen so zueinander: Mein Recht, meine Faust zu schwingen, endet – frei nach Oliver Wendel Holmes jr. – vor der Nase des Nächsten.

Auf welche Frage haben Sie keine Antwort?

Auf viele Fragen. Zum Beispiel das Verhältnis von persönlichem Lebensglück und sozialer Verantwortung. Gauguin hat seine Familie verlassen und ist in die Südsee gefahren, um zu malen. Er hat sich selbst verwirklicht, großartige Kunst geschaffen, aber dafür seine Familie im Stich gelassen.

Egoismus versus Moral?

Das Verhältnis der Individualethik zur Sozialethik. Ich bin ja auch ein Mensch. Ich habe die gleichen Rechte zu fordern wie alle anderen. Es wäre nach Kant eine in sich widerstreitende Maxime, wenn ich meine Glückseligkeit aufgebe, um die der anderen zu fördern.

Wie wichtig sind die unmoralischen Menschen für die Moral?

Die sind zur Abgrenzung wohl notwendig. Das schlechte Verhalten ist der intellektuelle Grund für die Beschäftigung mit der Moral, also dafür, sich zu überlegen, was richtig ist und was falsch.

Eine Gesellschaft, in der sich alle an die geltenden Regeln halten würden, wäre wenig innovativ und stinklangweilig.

Mit dem Wunsch, moralisch die Sau rauszulassen, habe ich ein Problem. Das kann man nur wollen, wenn man eine überholte Vorstellung von Moral hat. Nach meiner Definition dient Moral dazu, das Zusammenleben zu ermöglichen, dagegen kann man kaum verstoßen wollen.

Welche moralische Frage beschäftigt Sie derzeit am dringlichsten?

Die der falschen Gefühle.

Hört sich irgendwie schlüpfrig an. Was sind das denn für Gefühle?

Es geht um Dinge wie Schadenfreude, die man empfindet, obwohl man weiß, dass sie falsch ist und man sie nicht empfinden will. Oder noch schwieriger: Jemand wartet auf ein Organ zur Transplantation und weiß, er kann nur ein neues Herz bekommen, wenn ein anderer stirbt. Wenn er aus dem Fenster schaut, und draußen ist schönes Motorradfahrer-Sommerwetter, dann weiß er: Ich habe jetzt mehr Chancen als im November. Er wünscht niemandem den Tod, aber er hofft für sich. Wie das moralisch einzuordnen ist, da weiß ich keine rechte Antwort.

Was war das Unmoralischste, was Sie bisher in Ihrem Leben getan haben?

Das fällt mir jetzt aus dem Stegreif nicht ein. Und wenn es mir einfällt, gehört es per definitionem zu den Dingen, die man wohl besser nicht öffentlich äußert.

Kai Schlieter, Jahrgang 1973, ist taz-Schwerpunktredakteur. Er hat zweieinhalb Studienabschlüsse und keinen Doktortitel