uli hannemann, liebling der massen : Der Mariannenplatz war blau
Dicht an dicht schieben sich Menschenmassen durch die Oranienstraße. Die wird gesäumt von professionellen, halbprofessionellen und unprofessionellen Fress- und Saufständen. „Fressen gegen den Imperialismus“ – das scheint mir in jedem Jahr mehr das Motto zu sein. Das Publikum ist gemischt – Anwohner, Auswärtige, Yuppies, Punks –, doch in diesem Punkt sind alle gleich: Schmackofatz ins schwarzgewandete Bäuchlein und Bier ins sonnenrote Kehlchen. Da möchte auch ich nicht außen vor stehen: Ich esse erst eine ausländische Wurst und danach eine deutsche – heute wird das Schweinesystem zur Abwechslung einmal stückweise von seinen Kindern gefressen. Beide Würste sind gut auf ihre jeweils eigene Art – ich denke, das kann man als Erkenntnis ruhig mal mitnehmen oder stehen lassen.
Die Festbesucher trinken sehr viel Alkohol. Wer mag es ihnen verübeln – sie haben es nicht leicht: Zwar ist es woanders noch viel schlimmer, doch allein daran zu denken, tut ganz furchtbar weh. Außerdem ist es schon kurz nach ein Uhr Mittag – da darf ja wohl, wer kein Spießer ist. Zum Glück gib es genügend ambulante Tapeziertische mit Bier und vor allem Caipirinha. Die ist das traditionelle Revolutionärsgetränk – da brauche ich nur in die Gesichter in der Schlange zu blicken: aufrecht, edel, gut und eilig. Vorne mixt ein Revolutionskomitee das Zeug im Akkord nach dem kubanischen Reinheitsgebot – immer viel rein, damit es deftig heizt.
Mit dem hochprozentigen Rüstzeug in der Revolutionärsseele lässt sich immerhin die Musik ertragen. Die ist nämlich auch dieses Jahr laut irgendeinem ungeschriebenen Gesetz wieder auf eine krachhysterische Art unentspannt. Von mehreren Bühnen gleichzeitig brüllen einen vorwurfsvolle Zotteltiere an. Aber vielleicht bin ich auch einfach zu alt. Jungsein ist nun mal zottelig, laut und wütend. Daraus entsteht unheimlich viel Energie. Dann noch ein paar Caipirinha in und heftige Gitarrenschläge auf den Kopf und schon wachsen revolutionäre Bärenkräfte. Die müssen natürlich irgendwohin raus, sonst zerbricht der junge Mensch daran. Ich dagegen sitze seit Jahren nur noch auf dem Sofa und jammere Kringel in den Pfefferminztee – ist das vielleicht besser? Ich denke schon.
Der Mariannenplatz ist gesteckt voll. Alle treten einander in die Hacken, während sie die zahllosen Buden belagern. Von denen gibt es nur genau drei Sorten: Fressen, Saufen, Propaganda. Fressen kann ich nicht mehr. Saufen will ich noch nicht. Dafür fällt mir ein, dass ich unbedingt neues Propagandamaterial brauche – ich hab kaum noch was zu Hause. Ich decke mich ordentlich ein und mache zwischendurch Notizen. Aus schmalen Schlitzen mustern mich argwöhnisch Revolutionärsaugen: Jawohl, ich bin ein Zivi – zufrieden? Ich schreib euch auf – ich, IM Hannemann, der attraktive Meisterspion mit der drittberühmtesten Zettelwirtschaft nach Ewald Lienen und Mata Hari – und dann melde ich euch!
An meinem Fahrrad zurück, bemerke ich, dass jemand mit roher Gewalt meinen Kettenschutz zerstört hat. Aber was heißt schon „mit roher Gewalt“? Ich denke mal, anders hätte es einfach nicht funktioniert. Und ist so ein Kettenschutz nicht auch ein Symbol für den eitlen Schutz der Hosenbeine, also letztlich mit eine Stütze des Systems der herrschenden Klasse, die bekanntermaßen ja so viel auf ihre Hosenbeine gibt? Das ist alles sehr schwierig. Zu Hause wartet der Pfefferminztee.