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Archiv-Artikel

Ich filme, also werde ich gesichtet

DOKUMENTATION Videomaterial von Menschen aus aller Welt ist in „Life in a Day“ zu einem kitschigen Zappingfilm montiert

Sechs Mal wurde er von Autos angefahren, oft war medizinische Hilfe nötig. Er kommt aus Korea, ob Süden, ob Norden – egal. Rund zehn Jahre ist er schon mit dem Fahrrad unterwegs, hat 190 Länder besucht. Es ist eine unglaubliche Aussteigergeschichte, die der Mann in groben Strichen skizziert, unaufgeregt, fast zurückhaltend vorgetragen: Nicht die Fleiß- und Fließbandarbeit angezeigter Selbstverwirklichung lässt ihn in die Pedale treten, nicht einmal ein Hauch von Entdecker-Pathos spricht aus ihm. Ein ganz normaler Mensch fährt Rad – in zehn Jahren um die Welt. Sofort wünscht man sich einen Dokumentarfilm über ihn: vier, fünf, sechs Stunden lang oder jedenfalls mit aller Zeit der Welt bei der Umrundung derselben zusehen.

Zu sehen gibt es von dem Mann in „Life in a Day“ aber nur wenige, konzeptbedingte Videoschnipsel: Der britische Film ist das Ergebnis eines Experiments, das YouTube vergangenes Jahr ausrief. Am Stichtag 24. Juli sollten Menschen in aller Welt ihren Alltag dokumentieren und das entstandene Material über die Videoplattform einreichen.

Knapp 4.500 Videostunden kamen so zusammen, wurden gesichtet, thematisch sortiert und als Essenz von knapp 90 Minuten in die Chronologie eines Tagesablaufs gebracht. Ob in Japan, Indien, Europa oder USA, es wird geduscht, gegessen, gelacht, geweint, gelebt und – am selben Tag fand das Unglück der Love Parade statt – gestorben, dank der Suggestionskraft der parallelisierenden, assoziierenden Montage synchron über alle Zeitzonengrenzen hinweg: die Sinfonie des Weltdorfs.

Dabei gibt es wunderbar sanfte, schöne Momente: Der Fahrrad fahrende Koreaner gehört ebenso dazu wie die fischäugig gefilmten Eindrücke aus der grotesk vollgestellten Wohnung eines alleinerziehenden Manns in Japan oder das resignativ-melancholische Eingeständnis eines gewöhnlichen Mädchens aus der amerikanischen Provinz, dass entgegen aller Hoffnung an diesem Tag ganz einfach nichts dokumentierenswert Großartiges geschehen ist.

In diesen Sekunden ephemerer Ruhe und formaler Unbeschlagenheit ist „Life in a Day“ am stärksten – und das Gewöhnliche, das Beiläufige wird für einmal Kino. Schade ist es deshalb, dass die Produzenten dem Rohen, Ungefertigten des Ausgangsmaterials anscheinend nicht recht trauten: Über weite Strecken verklebt musikalischer Kitsch zwischen Befindlich- und Beschaulichkeit die Bilder, vieles, was darin genauer zu beobachten vermutlich lohnen würde, wird in der Montage aufs bloße Motiv hin zugerichtet und eingegliedert, nicht weniges entspricht bloßer Lifestyle-Illustration. Doku-Zapping mit Postkarten aus der globalen Peripherie.

Dennoch lässt sich dem Projekt eine gewisse Faszinationskraft kaum absprechen: Unweigerlich entsteht der Drang, sich ganz unabhängig von sortierenden Instanzen in den Tiefen der Videoplattformen einfach weiter treiben zu lassen. Und wer geht denn schon für YouTube ins Kino? THOMAS GROH

■ „Life in a Day“. Regie: Kevin Macdonald. GB, 2011, 95 Min.