: Von Moskau nach Berlin
TEXT-BILD Es ist ein eindrückliches Dokument: Der russische Fotograf Jewgeni Chaldej hat im II. Weltkrieg als Kriegsreporter heimlich Tagebuch geführt
VON KLAUS BITTERMANN
Seine berühmtesten Fotos kennt jeder, aber kaum jemand weiß, von wem sie stammen. Fotos von der Potsdamer Konferenz, Churchill, Truman und Stalin in Korbstühlen sitzend, Truman in Zivil, Stalin in Operettenuniform, einige Fotos von den Nürnberger Prozessen und natürlich das Foto mit dem russischen Soldaten, der auf dem Reichstag die sowjetische Flagge hisst – diese durch tausendfache Reproduktion dem kollektiven Gedächtnis eingebrannten Bilder stammen von Jewgeni Chaldej, dessen „Kriegstagebuch“ nun erschienen ist.
Es sind Ikonen in der Geschichte der Fotografie, die nicht weniger bedeutend sind als das Foto Robert Capas vom fallenden Milizionär im Spanischen Bürgerkrieg, von dem man nicht mal weiß, ob es nicht gestellt war.
Erst 2000 wurde Chaldejs „Tagebuch“ bei einer Inventarisierung des Nachlasses gefunden. Der 1997 verstorbene Chaldej hatte zwischen 1941 und 1943 einige seiner Eindrücke aufgeschrieben. Heimlich, denn es war den sowjetischen Soldaten ausdrücklich verboten, das zu tun. Es sollten keine deprimierenden oder grausamen Details unkontrolliert die Zivilbevölkerung im Hinterland erreichen, es durften keine Bilder von verwundeten Sowjetsoldaten veröffentlicht werden, und zwar auch lange nach dem Krieg nicht, nichts sollte der offiziellen Informationspolitik in die Quere kommen.
1917 geboren, arbeitete er in einem Stahlwerk, bevor er für die russische Nachrichtenagentur Tass Fotokorrespondent wurde, zwischen 1941 und 1945 offizieller Kriegsfotograf war und drei Jahre später wegen seiner jüdischen Herkunft entlassen wurde. Lange musste er sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen. Inzwischen wurde sein Werk zum nationalen Kulturgut erklärt, obwohl man in Russland mit seiner Hinterlassenschaft nicht besonders sorgfältig umgeht.
Chaldejs Aufzeichnungen sind nicht wirklich sensationell und man darf auch nicht erwarten, dass durch sie etwas Unbekanntes enthüllt würde. In diesem Buch sind die Fotos viel ausdrucksstärker und wichtiger als der Text, aber es sind die kleinen Hinweise und Details, die sein Tagebuch von anderen Beschreibungen des Grauens unterscheiden, denn dieses Grauen von 7.000 Toten, die in einem sich über zwei Kilometer weit erstreckenden Graben liegen und die mit Seilen an den Füßen wieder herausgezogen werden, um sie zu identifizieren, ist nicht wirklich beschreibbar. Das liegt zum einen daran, dass das Grauen die Grenzen des Fassbaren überschreitet, zum anderen aber auch daran, dass man diese Bilder inzwischen von vielen anderen Bürgerkriegsorten her kennt und somit der Schrecken inflationär wurde.
Chaldej ist fassungslos, dass Stalin sich erst neun Tage nach dem Einfall von 3,2 Millionen deutschen Soldaten zu Wort meldet und es zunächst Wjatscheslaw M. Molotow überlässt, die Bevölkerung vom Angriff der Verbündeten in Kenntnis zu setzen. Von einer Reise zurück in Moskau muss Chaldej feststellen, dass der Hauswirt, als die Deutschen auf die russische Hauptstadt zumarschierten, vor lauter Panik und um den Deutschen nichts in die Hände fallen zu lassen, alles vernichtet hat: „Meine Mäntel und Anzüge sahen aus wie Nudeln, fein säuberlich mit einem Rasiermesser zerschnitten.“
Er berichtet von der wundersamen Rettung eines Rotmariners, der drei Tage in einem von einer Bombe getroffenen und untergegangenen Schiff überlebt hatte. Und er schreibt von seiner Zuneigung zu Katja, einer Bomberpilotin, als „alles ganz einfach war“ und er jedes Mal „geduldig die Tage zählte, bis sie wieder von einem Auftrag zurückkehren würde“. Viele seiner Freunde, Verwandten und Bekannten sind gefallen, ermordet und in Massengräbern verscharrt worden, seine Einstellung zum Krieg ist dennoch unsentimental: „Es herrscht Krieg, man sollte nicht so verwundert sein und nicht herumjammern, aber es war schade um die guten Freunde.“
Abgesehen von den sehr aufschlussreichen Zwischeneinschüben des Mitherausgebers Heinz Krimmer, die für den Leser wertvolle Hinweise enthalten, sind vor allem die Fotolegenden wichtig und manchmal auch sehr lustig. Chaldej hat sie Mitherausgeber Ernst Volland in Moskau während eines Besuchs erzählt. Zum Beispiel von den Frauen, die den Verkehr regelten, aber bei Bombenangriffen ihren Posten nicht verlassen durften.
Oder die Geschichte zu einem im Mai 1945 aufgenommenen Bild, das in dem „Kriegstagebuch“ gar nicht enthalten ist und auf dem ein toter Hitler zu sehen ist, umringt von vielen sowjetischen Soldaten: „Der Krieg war zu Ende, Hitler war ‚kaputt‘, und dennoch trugen einige noch diesen Schnauzbart und den Scheitel wie Hitler. Unsere Soldaten, die solch einem Menschen begegneten, sagten: ‚Oh, seht mal, das ist Hitler.‘ Der falsche Hitler flüchtete, und die Soldaten schossen auf ihn. In der Kommandantur wurden täglich zwölf bis fünfzehn ‚Hitler‘ gebracht, alle mit Schnauzbart und dem schrägen Scheitel. Dummköpfe, was soll man sonst dazu sagen.“
■ Jewgeni Chaldej: „Kriegstagebuch. Schriftliches und fotografisches Tagebuch“. Herausgegeben von Ernst Volland und Heinz Krimmer. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2011, 224 Seiten, 24,95 Euro