: Aus der Ferne gruseln
SCHICKSALE Eine Fluchtgeschichte, wie sie das Leben allzu häufig schreibt: Der Roman „Im Meer schwimmen Krokodile“ von Fabio Geda
Geschichten aus Afghanistan faszinieren das westliche Publikum. Wolfgang Böhmer („Hesmats Flucht“) und Deborah Ellis („Die Sonne im Gesicht: Ein Mädchen aus Afghanistan“) haben schon die Erfolgswelle vom „Drachenläufer“ mitnehmen wollen. Und nun kommt der italienische Autor Fabio Geda mit seinem Roman „Im Meer schwimmen Krokodile“.
In Italien hat Geda damit auf Anhieb einen Bestseller gelandet. Die Geschichte basiert auf den authentischen Fluchterlebnissen des Bauernjungen Enaiatollah Akbaris. Enaiatollah erzählt von seiner Odyssee aus der afghanischen Provinz Ghazni gen Westen – er flüchtet über Pakistan, Iran, Türkei, Griechenland, bis er schließlich in Italien ankommt. Geda schreibt aus Enaiatollas Perspektive, die Geschichte wird durch jetztzeitige Dialoge zwischen Autor und Erzähler angehalten. Geda bedient sich der einfachen, naiv-poetischen Sprache des jungen Afghanen. Die Geschichte ist durchtränkt mit einem Unbehagen, hervorgerufen durch die Realität eines Flüchtlings, der beinahe umkommt, in der Hoffnung auf ein besseres Leben im Westen. Man liest das Buch aber noch mit einem weiteren Unbehagen. Denn man weiß ja: Der westliche Leser kann sich dabei aus der Ferne gruseln.
Lohnend ist die Lektüre dann aber dennoch. Durch den chronologischen Aufbau des Hergangs kommt ein außergewöhnlicher Reifungsprozess des Jungen zum Vorschein. Weder mit Schulwissen noch mit Geld ausgestattet, erlangt der junge Afghane durch seine grausamen Erfahrungen eine Schläue, die durch den täglichen Überlebenskampf in sein Bewusstsein eingemeißelt wird. „Dass ich es geschafft habe, hat nichts damit zu tun, dass ich schlauer oder intelligenter wäre. Ich hatte einfach nur Glück“, erklärt Enaiatollah bescheiden.
Sein „Glück“ wird offensichtlich angetrieben von drei Geboten, die ihm seine Mutter eintrichtert, bevor sie ihm seinem Schicksal überlässt: keine Drogen, keine Waffen und niemals stehlen! Die Mutter schmuggelt ihn über die Grenze nach Quetta in Pakistan und verlässt ihn. Mehr kann sie nicht tun, um ihren Sohn vor den Taliban zu schützen. Enaiatollah und seine Familie gehören zur Ethnie der Hazara: schiitische Moslems mongolischen Ursprungs – und Zielscheibe der radikalen Gotteskrieger.
Gleichmütig beginnt der Junge, sofort Geld zu verdienen: als Tee- und später als Bauchladenverkäufer. Als er von anderen Straßenkindern vom Iran hört, lässt er sich auf Schlepper ein, die ihn dorthin schleusen. Er arbeitet auf illegalen Baustellen, wird zweimal erwischt, abgeschoben und reist wieder ein. Enaiatollah hält sich stets an eine weitere Anweisung seiner Mutter: „dass man immer einen Wunsch vor Augen haben soll, wie ein Esel eine Karotte“.
Seine Karotte ist zunächst die Türkei. Mit anderen Flüchtlingen läuft er tagelang über verschneite Berge in Aserbaidschan, vorbei an erfrorenen Menschen. In der Türkei stopfen ihn Schlepper mit etlichen anderen Menschen in den doppelten Boden eines Lastwagens. Solche barbarischen Zustände seien seit den Zeiten der Sklaverei vorbei – so möchte man meinen. Enaiatollah hat sie erlebt und viele Tote gesehen.
„Im Meer schwimmen Krokodile“ ist der dritte Roman Fabio Gedas. Die Vorgänger bearbeiten fiktive, nicht minder grausige Schicksale. Der vorliegende Roman ist seine erste Geschichte über einen echten Flüchtling. Den jungen Mann, sagt Geda, hat er zufällig bei einer Lesung getroffen. ORANUS MAHMOODI
■ Fabio Geda: „Im Meer schwimmen Krokodile“. Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt. Knaus, München 2011, 192 Seiten, 16,99 Euro