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Archiv-Artikel

Eine Hölle namens Familie

ÄrztInnen gelobten auf einer Medizinertagung in Berlin, bei ihren jüngsten PatientInnen bewusster auf Anzeichen von Misshandlungen durch deren Mütter und Väter achtzugeben. Ein Fortschritt!

ABLENKUNGSDEBATTE UBER PÄDOSEXUALITÄT?

An der Charité, dem Klinikum der Berliner Humboldt-Universität, werden seit zwei Jahren Männer und Frauen mit pädosexueller Orientierung therapeutisch behandelt. Es ist der bundesweit bekannteste Versuch, Pädosexuelle wenigstens sexualambulatorisch ernst zu nehmen. Ziel der Behandlung ist jedoch nicht, die PatientInnen zu heilen – weil es aussichtslos ist. Zu lernen haben sie allerdings, auf das Ausleben ihrer Wünsche strikt zu verzichten und zugleich nicht in suizidbefördernde Depressionen zu verfallen. 100 Patienten sind aktuell dort in Behandlung, teilweise kommen sie aus West- und Süddeutschland angereist. Am Hamburger Institut für Sexualforschung wie in der Sexualmedizinischen Ambulanz der Uniklinik Frankfurt/Main finden Pädosexuelle ebenso Hilfe. JAF

VON JAN FEDDERSEN

Gerhard Gaedicke ist Direktor der Klinik für Allgemeine Pädiatrie an der Berliner Charité und insofern Experte für das, was im aktuellen familienpolitischen Diskurs ausgespart bleibt: Dass die Familie, in die Kinder hineingeboren werden, ihnen oft eine Hölle auf Erden ist. „Es ist einfach sehr schwer, sich vorzustellen, dass Eltern so etwas antun.“ Aus der Perspektive von Notfall- und Kinderärzten liest sich die schmusewollene Erzählung von den Kindern, die am besten unter Mamas Dirigat und mit Papas Einkünften, jedenfalls nicht in Krippen aufwachsen, anders.

Jenseits des christlich-konservativen Krähwinkels liest sich die Wirklichkeit von Kindern in Deutschland so, und zwar weitgehend unabhängig von Klassenzugehörigkeiten, Finanz- und Wohnlagen: Kinder, die beim Schularzt blaue Flecken aufweisen und bei denen man schließlich schlecht verheilte Knochenbrüche zusätzlich entdeckt; Jungs, die von ihren Eltern mit dem Po auf heiße Herdplatten gesetzt werden; Mädchen, deren Haut mit kochendem Wasser verbrüht wird. Auch der früher fast beiläufig festgestellte „plötzliche Kindstod“ steht bei Ärzten, Polizei wie Gerichtsmedizinern mehr und mehr unter Verdacht: Kinder, die an einem Schütteltrauma starben, kamen eben nicht durch göttliche Fügung ums Leben, sondern durch Misshandlungen durch ihre Eltern, Mütter und Väter.

Die HeldInnen der Aufklärung sind im Übrigen nicht allein Kinderärzte – sondern Radio- und Röntgenologen: Auf ihren Röntgenbildern können sie quasi hinter die blauen Flecke gucken. Gerhard Gaedicke am Ende der Tagung an der Charité, an der 400 KinderärztInnen teilnahmen, stellvertretend für seine KollegInnen über die Qualen, die Kinder in ihren Familien erleiden müssen: „Da kocht einem als Arzt die Wut hoch.“

Die gute Nachricht, allenthalben: Ärzte werden inzwischen bereits während ihrer Ausbildung geschult, Verletzungen bei Kindern nicht mehr automatisch als gewöhnliche Blessuren wahrzunehmen – als typische Wunden, die Mädchen und Jungen sich beim Spielen zuziehen.

Dass mittlerweile die Gewalt gegen Kinder als vornehmlich innerfamiliär wahrgenommen wird, hat auch mit dem diagnostischen Gespür der Pädiater zu tun: Noch vor 150 Jahren gab es keinen besonderen Zweig in der Medizin, der sich Kindern widmete. In den meisten Ländern ist das Züchtigen von Kindern durch ihre Erziehungsberechtigten nach wie vor nicht verboten. In Deutschland ist es erst seit rot-grünen Regierungszeiten verboten, Kinder zu schlagen, in den Schulen seit Ende der Siebziger, nun auch in den Familien.

Uneins sind sich Ärzte allerdings darüber, wie, nach ihrer medizinischen Hilfe, mit den kriminellen Entdeckungen umzugehen ist: Sollen sie die Eltern der Polizei melden? Gaedicke plädiert für „Hilfe vor Strafe“, denn wenn man „den Eltern gleich mit einer Anzeige droht, machen sie sofort dicht“. Ein Arzt könne eine Fülle von anderen Möglichkeiten ausschöpfen, ehe gewalttätigen Müttern und Vätern direkt mit Strafverfolgung gedroht werde. Denn diese seien häufig selbst als Kinder durch Gewalt traumatisiert worden, jedenfalls mit dem eigenen Nachwuchs oft überfordert: Sie wollen Kinder – und wissen nicht warum!

Über den Grad an Verrohung in den hiesigen Familien schwanken die Berichte. Jahr für Jahr, darüber geben Kriminalstatistiken Auskunft, kommen mehr Kinder unter Einwirkung familiärer Gewalt und Verwahrlosung als durch Pädosexuelle, landläufig Kinderschänder genannt, ums Leben.