piwik no script img

Archiv-Artikel

Zeile für Zeile

UNRECHT 482 Seiten, 20.000 Werke. Die Enteignung „entarteter Kunst“ unter Hitler ist auf einer Liste akribisch dokumentiert. Aber viele Bilder bleiben verschollen. Wie zwei Detektive Spuren sammeln

Ein Jahr Gurlitt

■ Sohn: Am 4. November 2013 wird bekannt, dass die Staatsanwaltschaft Augsburg im Februar 2012 bei Cornelius Gurlitt mehr als 1.400 Kunstwerke beschlagnahmt hat. Etwa 600 davon stehen unter dem Verdacht, Raubkunst zu sein.

■ Vater: Cornelius Gurlitt, der am 6. Mai 2014 starb, ist der Sohn und Erbe Hildebrand Gurlitts. Der war einer der vier Kunsthändler, auch „Verwerter“ genannt, die Tausende Werke verkaufen sollten, die die Nazis bei der Aktion „Entartete Kunst“ beschlagnahmt hatten. Cornelius Gurlitt hat seine Sammlung dem Kunstmuseum Bern vererbt. Das entscheidet am 26. November, ob es annimmt.

VON THOMAS GERLACH

Im Februar 1997 wird der Kunsthistoriker Andreas Hüneke nach London gerufen. Die Leitung des Victoria and Albert Museums bittet ihn, sich eine Liste anzusehen. 482 vergilbte Seiten mit akkuraten Schreibmaschinenbuchstaben, auf Seite fünf steht ein Abkürzungsverzeichnis. Von A = Aquarell bis X = Vernichtung.

Könnten diese zwei Bände das Verzeichnis aller Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Grafiken und Skulpturen sein, die die Nazis 1937 aus den staatlichen Museen in ganz Deutschland beschlagnahmt haben? Die verschollen geglaubte vollständige Inventarliste der Aktion „Entartete Kunst“? Es gibt niemanden, der das so gut beurteilen kann wie der 53 Jahre alte Potsdamer Andreas Hüneke.

Als er zurückkehrt, trägt Hüneke einen Mikrofilm mit der kopierten Liste bei sich. Ein Jahr zuvor war sie dem Londoner Museum mit einem Nachlass übergeben worden. Die Berliner Morgenpost, die den Schatz einsehen konnte, verkündet: „Eine in London entdeckte Liste könnte helfen, seit dem Krieg vermisste Gemälde zu finden“.

Wo sind die verschwundenen Bilder?

Zwar ist die Zeit des Nationalsozialismus seit mehr als fünfzig Jahren vorbei, aber immer noch weiß niemand, was während und nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem großen Teil der gut 20.000 Werke passierte, die die Nazis als „entartet“ diffamierten. Werke jüdischer und kommunistischer Künstler und Kunst, die nicht den ästhetischen Vorstellungen der Nationalsozialisten entsprach: Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus. Sie wurde aus den Museen fortgeschafft, einige der Werke in der Schmähausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt und dann meist ins Ausland verkauft. „Verwertet“, wie die Nazis sagten. Oft verliert sich spätestens hier ihre Spur. Wo sind sie heute? Und wem genau gehörten sie einst? Welche Bilder wurden überhaupt konfisziert, welche gingen auf anderen Wegen verloren?

Als Andreas Hüneke 1997 aus London zurückfliegt, bringt er ein wichtiges Puzzlestück dieser Suche nach Deutschland: die komplette Liste der Werke. Doch wenig später verschwindet sie wieder hinter Institutsmauern.

Andreas Hüneke steht vor dem Eingang zum Kunsthistorischen Institut der Freien Universität in Berlin-Dahlem, dort wo sonst die Studenten rauchen, und drückt eine Kippe aus. Die Bäume vor dem lang gestreckten, sachlichen Bau färben sich herbstgelb. Drinnen sind die Flure leer, das Semester hat noch nicht begonnen. 17 Jahre sind seit der Reise nach London vergangen, Hüneke, inzwischen siebzig, hat einen zerzausten Vollbart, er trägt Sandalen an den Füßen. Wie ein zu alt gewordener Student führt er in die Cafeteria.

Oben im zweiten Stock steht sein Schreibtisch in der Forschungsstelle „Entartete Kunst“. Dort versucht Hüneke seit 2003 mit der Liste das Schicksal und den Verbleib der verschollenen Werke zu klären. Die Recherchen werden seit 2010 veröffentlicht. Rund 10.000 Kunstwerke sind seitdem in einer Online-Datenbank publiziert worden. Die Liste selbst bleibt unzugänglich. Etwa 3.500 Zugriffe gibt es auf die Datenbank Monat für Monat – bis vor einem Jahr.

Im November 2013 beherrscht der Name Gurlitt Titelseiten und TV-Nachrichten. Jener Name, der auf nahezu jeder Seite der Liste auftaucht. Hildebrand Gurlitt ist einer der vier Kunsthändler, die von Goebbels Propagandaministerium mit dem Verkauf der eingezogenen Kunst beauftragt wurden. Neben Gurlitt sind es Karl Buchholz, Bernhard A. Böhmer und Ferdinand Möller – Namen, die bis November 2013 nur Spezialisten wie Andreas Hüneke etwas sagten. Hildebrand Gurlitt und sein damals noch lebender Sohn Cornelius, den Zollfahnder schon 2010 in einem Zug überprüfen, werden über Nacht bekannt.

Auch die Forschungsstelle in Dahlem steht plötzlich im Scheinwerferlicht. Am 5. November muss sich die Augsburger Staatsanwaltschaft in einer eilig anberaumten Pressekonferenz zu den Hintergründen jener rund 1.400 Kunstwerke erklären, die in Cornelius Gurlitts Wohnung beschlagnahmt wurden. Das Magazin Focus hat den Fall öffentlich gemacht, Titel: „Der Nazi-Schatz“. Ans Licht kommt, dass bereits eineinhalb Jahre zuvor die Bilder und Grafiken aus Gurlitts Wohnung abtransportiert wurden. Expertin für die Sichtung der Sammlung ist Meike Hoffmann, eine Kunsthistorikerin, die nun mit Fragen bestürmt wird. Wem gehören die Bilder? Dem Erben Cornelius Gurlitt? Gehören sie zur „entarteten Kunst“? Stammen sie aus jüdischem Besitz?

Meike Hoffmann ist eine von zwei Wissenschaftlern in der Forschungsstelle „Entartete Kunst“. Sie fing einige Jahre nach Hüneke dort an. Nach dem Fall Gurlitt verzehnfacht sich das Interesse an der Datenbank in jenem November: 34.000 Zugriffe. Das Verzeichnis aller Kunstwerke bleibt unzugänglich.

Andreas Hüneke sitzt in der Cafeteria an einem Tisch. „Die Liste wurde uns zur Forschung zur Verfügung gestellt“, sagt er. Sie hätten sie nicht einfach für jeden öffentlich machen können. Das Victoria and Albert Museum habe damals die Urheberrechte besessen. Hüneke beugt sich herüber. „Außerdem ist das eine zweischneidige Sache.“ Es sei eben nicht damit getan, zwei Stunden die Liste zu studieren. „Ich beschäftige mich seit vierzig Jahren damit. Es gibt immer noch Dinge, die mich überraschen.“ Falsche Einträge, Buchungsfehler. Da spricht akademische Gewissenhaftigkeit und vielleicht auch der Stolz des Entdeckers. Wer gibt schon gern so eine Trophäe wieder aus der Hand? „Außerdem habe ich befürchtet, dass wir mit Anfragen überschüttet werden.“

Das ist die Diskrepanz zwischen Vermögen und Auftrag: Eine Forschungsstelle, die das Schicksal von mehr als 20.000 Kunstwerken in detektivischer Spurensuche klären muss – anhand alter Fotos, historischer Dokumente und Archive. Mit einer Ausstattung wie bei einem Kreismuseum: zwei Planstellen für zwei Historiker. Dazu eine halbe Assistentenstelle, einige studentische Hilfskräfte – das ist die zentrale Einrichtung in Deutschland, die der „entarteten Kunst“ nachspürt. Deshalb ist die Datenbank auch nach zehn Jahren erst halb gefüllt.

Für Hans Prolingheuer ist das alles ein Indiz für eine groß angelegte Verzögerung. Ein organisiertes Desinteresse an der Aufklärung. Durch den Fall Gurlitt fühlt sich der Kirchenhistoriker aus Dortmund noch mehr bestätigt. Die Geheimniskrämerei der Staatsanwaltschaft Augsburg, die dürftigen Ergebnisse der Gruppe, die sich mit der Aufarbeitung beschäftigt hat. Die „Taskforce Schwabinger Kunstfund“ sollte „so schnell und transparent wie möglich“ Ergebnisse vorweisen, verkündete die Bundesregierung im Januar 2014. Das Gremium hat bisher zwei Gemälde aus der Gurlitt-Sammlung als Raubkunst eingestuft. Bei dem Tempo könnte es Jahre dauern, bis die Prüfung der rund 600 Werke, die unter Raubkunstverdacht stehen, abgeschlossen ist.

Die allermeisten Werke, die während der Aktion „Entartete Kunst“ in Deutschland konfisziert wurden, gelten nicht als Raubkunst. Weil es staatliche Museen waren, denen sie weggenommen wurden. Und weil das „Gesetz über Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst“ vom 31. Mai 1938 nie für ungültig erklärt worden ist. Weder die Westalliierten noch Kanzler Konrad Adenauer wollten dem Kunsthandel das Geschäft mit der „entarteten Kunst“ verderben. Einzig die Sowjetische Militäradministration hat 1946 das Gesetz für ihre Besatzungszone für Unrecht erklärt und aufgehoben. Und auch Raub hatte unterschiedliche Formen. Was etwa, wenn jemand Berufsverbot hatte und aus wirtschaftlicher Not Kunstwerke verkaufen musste?

Die Bundesrepublik und ihr Unwille, sich der NS-Geschichte zu stellen, unter besonderer Berücksichtigung der Evangelischen Kirche – so könnte das Lebensthema von Hans Prolingheuer lauten. Er ist die Instanz, die die Arbeit der Berliner Forscher von seinem Schreibtisch in Dortmund aus kritisch begleitet. Und er arbeitet selbst mit der Liste, die so lange unter Verschluss gehalten wurde.

Die Aufklärung des Falls „Entartete Kunst“ in Deutschland wird vor allem von zwei Menschen im Rentenalter vorangetrieben, die sich ihr Wissen selbst angeeignet haben.

Prolingheuer, 84 Jahre alt, greift in eine Schreibtischablage. Knapp 500 kopierte Blätter, die komplette Liste der „entarteten Kunst“, liegen akkurat gestapelt. „Hitlers Raubliste“, ruft er. „Das ist der richtige Name! Hitler wollte die Kunst der Moderne ausmerzen, Hitler gab den Befehl, die Museen auszurauben und Hitler ist Herr des Verfahrens – bis heute!“

Prolingheuer wohnt in der Dortmunder Innenstadt. Der Westenhellweg ist die zentrale Einkaufsstraße, vorbei an einem Weinhaus und einer Eisdiele geht es zu ihm hinauf. Von seinem Schreibtisch blickt er auf einen Dachparkplatz. Prolingheuers Gang ist unsicher geworden, sein Geist jedoch funkelt aus jedem Satz – wie seine Empörung.

Wenn Hans Prolingheuer davon zu reden beginnt, wie er an sein Exemplar der Liste kam, schwankt die Geschichte zwischen Wunder und Kriminalfall. „Gute Geschäfte“ hieß eine Wanderausstellung, die ein Berliner Verein vor einigen Jahren über den NS-Kunsthandel in Berlin organisierte. Mehr als zwei Jahre lang wurde sie an verschiedenen Orten in Berlin gezeigt. Das Interesse war enorm. Doch die größte Sensation blieb unbemerkt. Auf der letzten Station, dem Mitte Museum im Stadtteil Wedding, sah sich eine Besucherin eines der Ausstellungsstücke genauer an, ein umfangreiches Konvolut. Die Frau, selbst Historikerin, blätterte durch den Ordner: Es war eine Kopie der Londoner Liste, das Verzeichnis der „entarteten Kunst“. Hier wurde es erstmals ganz öffentlich präsentiert. Allerdings so, als wäre es aus Versehen passiert.

Was würde mit der Liste nach Ausstellungsende geschehen? Der Geschäftsführer des Museums zuckte mit den Schultern. Die Dame könne sie nehmen. Das war im September 2013, wenige Wochen bevor der Fall Gurlitt öffentlich wurde.

Viele haben vom Handel mit der Kunst profitiert

Und nun liegt ein Exemplar der Liste, die Andreas Hüneke 1997 als „Sensationsfund“ begutachtete, auf Prolingheuers Dortmunder Schreibtisch. Die Frau, die sie aufspürte, brachte ihm sofort eine Kopie. „So kam ich auf meine alten Tage noch einmal so richtig an die Arbeit.“

Prolingheuer, ein Mann mit schlohweißem Haar und heller Stimme, hat den Papierhaufen studiert, hat die Liste mit dem Finger abgefahren, hat Namen notiert. Selbst ein Sturz und sieben Wochen Krankenhaus haben ihn nicht gestoppt.

Seit mehr als 25 Jahren ist der Kirchenhistoriker der „entarteten Kunst“ auf der Spur. 2001 veröffentlichte er ein Buch, in dem er die Verflechtungen zwischen evangelischer Kirche und Nazi-Staat aufdeckt. Prolingheuer ist Zeitzeugen hinterhergelaufen, hat sie kurz vor ihrem Tod ausgefragt, hat den Lebenswegen der Profiteure nach 1945 nachgespürt. Sein Fazit: Von der „entarteten Kunst“ haben sie alle gut gelebt, Kirchenmänner genauso wie Kunsthändler – bis tief in die Bundesrepublik hinein.

Während Andreas Hüneke in seinem Institut in Dahlem mit akademischem Ernst dem Inhalt der Liste auf den Grund geht, sitzt Prolingheuer in Dortmund über demselben Dokument und redet sich in Rage.

Die beiden ungleichen Forscher sind schon 1997 aneinander geraten, als Hüneke mit der Liste nach Deutschland zurückkam. Prolingheuer kreidete Hüneke an, öffentlich darüber zu spekulieren, „entartete Kunst“ könne aus dem von der Roten Armee besetzten Gebiet in den Osten geschafft worden sein. Prolingheuer war überzeugt, dass der größte Teil gen Westen verfrachtet wurde und dort verschwand. Im Grunde geht es bis heute um die Fragen: Wer hat die Bilder? Wo muss man suchen?

Man meint, die Schreibmaschine klappern zu hören, glaubt die Ärmelschoner zu sehen, wenn man die Liste vor Augen hat. Akkurat sind Werk und Schöpfer nummeriert, Maltechniken festgehalten, die Klees, Kokoschkas, Lehmbrucks, die vielen kaum bekannten Namen, die Titel wie „Beweinung“, „Kind am Fenster“ oder einfach „Komposition“ auf das Blatt getippt, die Namen der Händler und natürlich die Devisen. 200 Dollar für einen Kandinsky in Öl, vierzig Franken für eine Graphik von Otto Dix – als Händler steht dort beide Male: Dr. Gurlitt.

Es ist die buchhalterische Bilanz eines staatlichen Verbrechens, das an einem Schreibtisch in Goebbels Propaganda-Ministerium 1941 sein vorläufiges bürokratisches Ende fand.

Mit der Liste ließen sich zumindest alle Kunstwerke in der Gurlitt-Sammlung, die aus der Aktion „Entartete Kunst“ stammen, prüfen und an die ursprünglichen Eigentümer, in der Regel waren das Museen, zurückgeben, ist Prolingheuer überzeugt. Wenn das Gesetz, das die Aktion anordnete, aufgehoben würde. Solange können die heutigen Besitzer, die bekannten und die vielen unbekannten, auf ihr Eigentumsrecht pochen. Dass der Westen ungerührt mit „entarteter Kunst“ handelt – für Hans Prolingheuer eine fortwährende Schande.

Prolingheuer, der als 14-Jähriger in die NS-Heeresmusikschule Bückeburg gesteckt wurde, später Kirchenmusiker werden wollte und dann in Köln als Religionspädagoge und beim Evangelischen Kirchentag arbeitete, zieht es deshalb immer noch an den Schreibtisch. Er lässt sich ächzend in den Stuhl sinken, sortiert den Papierstapel und erstellt aus Namen und Seitenzahlen per Hand einen Index für das unübersichtliche Dokument.

Ohne es zu wissen, hat Andreas Hüneke den alten Hans Prolingheuer mit Arbeit versorgt. Die Kopie der Liste, die kaum beachtet in der Wanderausstellung lag, stammte von ihm, von seiner Forschungsstelle. Sie gehörte zu den Unterstützern der Ausstellung.

Er schrieb die ganze Liste mit der Hand ab

Auch Hüneke kennt die Mühsal, die mit der Liste verbunden scheint. Er hat in den siebziger Jahren einen ersten Teil der Liste im Zentralen Staatsarchiv der DDR in Potsdam aufgespürt. Dann hat er in endlosen Klausuren jedes Kunstwerk, jeden Künstler, jedes Museum, die gesamte Inventarliste, von Hand übertragen als wäre er ein mittelalterlicher Kopist in einer Klosterzelle. „Kopien waren damals viel zu teuer.“ Hüneke lacht.

Der Weg, der Andreas Hüneke zum Experten für „entartete Kunst“ machte, begann nicht wie bei Prolingheuer in Nazi-Deutschland, sondern in der DDR. Für den Pfarrerssohn war in der Schule nach acht Klassen Schluss. Hüneke sah sich nicht zur Regimetreue in der Lage, weshalb er, über die Stationen Theatermaler, Abendschüler und Theologiestudent zu seinem Lebensthema fand – der Kunst der Moderne.

Während im Westen der Kunsthandel wieder florierte, kaufte sich Hüneke mit zwanzig sein erstes Bild: eine Stadtlandschaft des Magdeburger Malers Jochen Aue. Das Geld hatten ihm seine Eltern geborgt. Aue war zuvor in der SED-Bezirkszeitung verrissen worden: „Warum bloß malt Aue immer wieder den Kohlehafen?“, schimpfte der Rezensent. Warum malt er nicht schöne lachende Menschen? Der Verriss folgte Walter Ulbrichts kulturpolitischer Linie, die er bereits 1951 vorgab: „Wir brauchen weder die Bilder von Mondlandschaften noch von faulenden Fischen.“ Vierzehn Jahre, nachdem die Hetzjagd gegen die „entartete Kunst“ eröffnet worden war, war abstrakte Malerei im Osten wieder anrüchig.

„Ich habe mich als Verteidiger der Moderne gefühlt“, sagt Hüneke. Sein Auskommen findet er 1971 an der Staatlichen Galerie Moritzburg in Halle. Dort beginnt er, den Verlusten der Aktion „Entartete Kunst“ nachzuspüren. Die Galerie war eine Schatzkammer der Moderne, die Werke aller führenden Künstler im Bestand hatte. Hüneke ist fortan nicht nur Ausstellungsmacher und Kunsthistoriker, sondern auch Experte für „entartete Kunst“. Nebenher beginnt er selbst zu sammeln, Maler, die der DDR unbequem sind.

Wegen eines selbst verfertigten Holzschnitts, an Freunde im Kuvert verschickt, gerät Hüneke ins Visier der Stasi. Drei Affen sind darauf zu sehen, dazu das Diktum „Schweigen wird verhängt, auch 1977“. Er wird aus der Galerie Moritzburg herausgedrängt und muss sich fortan freiberuflich behaupten.

Wiedergutmachung, heißt es oft. Und bei der Kunst?

Als er den ersten Band der Liste übertragen hat, wertet Hüneke Akten über die autorisierten Händler aus, die er im Zentralen Staatsarchiv entdeckt. Mit seiner Expertise ist er bald auch im Westen gefragt, bei der Rekonstruktion der Schmähausstellung „Entartete Kunst“ 1987 in München etwa. Mit der Wiedervereinigung kommt auch die Hoffnung auf ein Ende des Nischendaseins.

Das neue größere Deutschland will sich seiner NS-Vergangenheit stellen – Völkermord, Holocaust, Zwangsarbeit. Aufarbeitung und Wiedergutmachung ist das Leitmotiv. Und die „entartete Kunst“? Die Kulturstiftung deutscher Länder tritt an Hüneke heran und finanziert ihm einen Computer. Die handgeschriebene Liste wird in Excel-Tabellen übertragen. Ein Anfang.

Als Hüneke aus London mit der vollständigen Liste zurückkommt, hat er Arbeit für Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, aber zunächst keinen, der sie bezahlt. Erst 2003 bekommt er schließlich seinen Schreibtisch an der Freien Universität Berlin.

Während die Universität die Räume und Büroeinrichtung stellt, übernimmt die Ferdinand-Möller-Stiftung die Personalkosten. Namensgeber Ferdinand Möller ist für Hüneke so etwas wie ein alter Bekannter. So wie auf der Name Gurlitt steht auch der Name Möller auf fast jeder Seite der Liste, im Verzeichnis noch mit oe geschrieben. Auf Möller war Hüneke auch schon in der Galerie Moritzburg gestoßen. Vier Gemälde aus Möllers Bestand kamen 1948 nach Halle.

Mehr auf taz.de

Das Verzeichnis aller Werke „entarteter Kunst“ steht seit diesem Jahr online, ist aber nicht durchsuchbar. Der Historiker Hans Prolingheuer hat einen Index erstellt, mit dem die taz.am wochenende nun eine Suchmaschine dafür gebaut hat. So kann man die Liste erstmals nach Künstlern und Händlern durchforsten. Die Suche: kunstraub.taz.de Mehr dazu: taz.de/kunstraubliste

Ferdinand Möller war einer der Händler, die die „entartete Kunst“ für die Nazis verkauften. Und wie die drei anderen – Gurlitt, Böhmer und Buchholz – war er eine schillernde Figur, kenntnisreich und geschäftstüchtig. Möller, Jahrgang 1882, spezialisiert auf Expressionismus, verkaufte und tauschte Werke der „entarteten Kunst“, behielt andere in Kommission. 1943 lagerte er seine Sammlung aus Berlin ins Brandenburgische aus.

Bernhard A. Böhmer nahm beim Einmarsch der Russen in Güstrow Zyankali. Hildebrand Gurlitt evakuierte seine Familie und seine Sammlung von Dresden nach Bayern. Aber Möller blieb vorerst in der sowjetischen Zone. Erst 1949 floh er mitsamt Sammlung in den Westen und eröffnet in Köln eine Galerie.

Zwei Jahre später verkaufte Ferdinand Möller einen Kandinsky, die „Improvisation Nr. 10“, die er 1939 für hundert Dollar aus dem Bestand der „entarteten Kunst“ erworben hatte, für 18.000 Franken an einen Händler in der Schweiz. Ein wirklich gutes Geschäft. Dabei war das Bild aus Hannover selbst nach NS-Gesetzen unrechtmäßig konfisziert worden, da es sich um Privatbesitz des Ehepaares El Lissitzky und Sophie Küppers handelte. Möller wusste das.

Während Möller die 18.000 Franken einstreicht, lebt Sophie Lissitzky-Küppers seit 1944 als Witwe in der Verbannung in Sibirien. Sie stirbt, ohne ihre Bilder je wiedergesehen zu haben. Erst ihr Sohn kann 1989 beginnen, sie zu suchen. 2002 einigt er sich mit dem Kandinsky-Besitzer. Seine Ansprüche auf ein anderes Gemälde werden vor Gericht abgewiesen. Verjährt.

Die vier „Verwerter“ und ihre Geschäfte – über Hildebrand Gurlitt wurde viel geschrieben, über seine Winkelzüge und Schwindeleien wie die, dass die Bilder im Dresdner Feuersturm vernichtet worden seien. Und immer die Frage: Besitzt sein Sohn die Werke noch rechtmäßig? Bernhard A. Böhmer, der sich mit seiner Frau das Leben nahm, wurde als gewissenloser Kunsthändler und Nazi denunziert. Karl Buchholz wanderte nach dem Krieg nach Kolumbien aus und verschwand aus dem Blickfeld. Verglichen mit seinen Kollegen schneidet Ferdinand Möller von allen „Verwertern“ am besten ab.

Er ist posthum und mit Hilfe seiner Tochter Förderer der Forschungsstelle „Entartete Kunst“.

Selbst Andreas Hüneke wirkt immer noch verblüfft, wenn er darüber spricht, wie die Stiftung zu ihrem Kapital kam. Die vier Gemälde, die zur DDR-Zeit in der Galerie Moritzburg in Halle hingen, forderte Möllers Tochter nach der Wende zurück. Was sich beim Lissitzky-Sohn über Jahre zieht, klappte bei der Nachfahrin Ferdinand Möllers auf Anhieb.

Nach Verhandlungen mit der Stadt Halle einigt man sich darauf, dass die Stadt aus öffentlichen Mitteln gut fünf Millionen D-Mark zahlen soll. Dafür bleiben drei der vier Bilder in der Galerie. Der Erlös fließt 1995 als Kapitalstock in die Ferdinand-Möller-Stiftung. Mit den Zinsen wird auch die Arbeit von Andreas Hüneke finanziert.

Eine Interviewanfrage beantwortet der Vorstand der Stiftung knapp, die Wichtigkeit der Stiftung für Aufarbeitung der Kulturpolitik im Dritten Reich sei „zur Genüge bewiesen“. Er verweist an die Forschungsstelle.

Profit eines „Verwerters“ für die Forschung

Eine Stiftung, die den Namen eines „Verwerters“ ehrt und mit Gewinnen aus dem Handel mit „entarteter Kunst“ ihr Stiftungskapital vermehrt, finanziert heute die Forschung mit. Andreas Hüneke wirkt, als würde er diese Merkwürdigkeit für eine Laune des Schicksals halten. „Das hat mir damals Schmerzen bereitet“, sagt er, als er sich erinnert, wie die Möller-Erben fast die Kunstwerke aus seiner ehemaligen Wirkungsstätte in Halle abgezogen hätten. Scheint da für einen Augenblick der Furor eines Hans Prolingheuers auf? „Aber die staatliche Forschung wäre heute nie so weit, wenn es die Stiftung nicht gäbe“, fügt er schnell hinzu und blickt über seine Brille.

Die Forschung – sie bräuchte mehr Geld. Die Bedingungen wären günstig. Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) schlug als Reaktion auf den Gurlitt-Skandal ein Deutsches Zentrum Kulturgutverluste vor. Dort sollten die Magdeburger Datenbank Lostart.de und die Berliner Arbeitsstelle für Provenienzforschung zusammengeführt werden. Das Ziel: Provenienzforschung – also die Suche nach der Herkunft von Werken – zu stärken. Ursprünglich sollte auch die Forschungsstelle „Entartete Kunst“ dazugehören, blieb dann aber außen vor. Als Grütters am 10. Oktober die Gründung absegnete, sprach sie trotzdem von einem Meilenstein.

In London hat der Fall Gurlitt noch etwas anderes bewirkt: Das Victoria and Albert Museum hat seine Liste inzwischen ins Internet gestellt.

„Ich halte den Effekt für begrenzt“, sagt Andreas Hüneke. Es ist einer der letzten warmen Oktobertage in Potsdam. Er hat gerade durch die Privatsammlung von DDR-Kunst geführt, die seine Frau und er zusammengetragen haben und die im ehemals königlichen Kutschstall ausgestellt ist. Sein erstes Bild, der Kohlehafen von Magdeburg, ist auch dabei. Nun steht Hüneke unter blauem Himmel und zündet sich eine Zigarette an.

Sicher, Leute könnten nun mal in die Liste reinschauen, sich einen Eindruck verschaffen. Warum nicht? „Ich habe ja nichts dagegen.“ Er sagt es beiläufig.

Thomas Gerlach, 50, taz-Reporter, kaufte 1992 sein erstes Ölbild für fünfzig Dollar von einem Maler aus dem weißrussischen Witebsk. Es war allerdings kein Chagall