: Inhalte? Welche Inhalte?
Die jungen, aktivistischen und hoch politisierten autonomen Gruppen sind deutlich näher dran an den Teilnehmern des G-8-Protests als die Plattitüden der Redner auf den Demonstrationsbühnen
VON MARK TERKESSIDS
Irgendwann am Samstagnachmittag in Rostock kam ich mir eingekesselt vor. Über mir schwebte ein Polizeihubschrauber, an der Uferstraße lieferten sich extra angerückte Robocops Scharmützel mit steinewerfenden Pubertierenden. Hinter mir gab es Bratwurst und Quarkgebäck. Am schlimmsten aber war das Schauspiel, das gerade auf der Bühne begonnen hatte.
Der erste Redner, ein Vertreter von Greenpeace, war eine inhaltsfreie Schlaftablette. Auch die folgende Sprecherin der Jugendinitiative SolarGeneration war keine Erleuchtung, aber vergleichsweise erfrischend konkret, im Gegensatz zum dritten Redner, der mit höchst kämpferischer Haltung eine Plattitüde nach der anderen abfeuerte darüber, wie viele „wir“ sind, dass „wir“ aber noch nicht gewonnen haben und dass „wir“ noch ganz schön viel kämpfen müssen gegen Privatisierung und Prekarisierung, gegen Krieg und Umweltverschmutzung usw. usf.
Mittlerweile behaupten Teile der Veranstalter, der Krawall und die folgenden Diskussionen über Einbinden oder Ausschließen der „Autonomen“ hätten Gespräche über Inhalte verhindert. Die Frage ist nur: Welche Inhalte? Was Parolen, Habitus und Aussehen des Personals angeht, hätte die Kundgebung vom Samstag genauso zu Beginn der 1980er-Jahre stattfinden können:
In den ersten Reihen vor der Bühne standen die Delegationen diverser linker Parteien und die Gewerkschaften mit ihren jeweiligen Bannern – Leute, die primär etwas verteidigen wollen, und zwar ein Potpourri aus allem, was sie einmal gut gefunden haben an Staatssozialismus, Sozialdemokratie, Sozialstaat sowie Umwelt- und Friedensaktivismus. Aus diesen Kreisen rekrutiert sich auch die Führungsebene der deutschen Sektion von Attac.
Die meisten Teilnehmer dagegen waren junge Leute im Alter zwischen 16 und 23. Die meisten von ihnen haben kaum mehr als ein diffuses Gefühl, dass sie keine Lust haben auf eine Welt, deren Utopie sich in Aktiengewinnen, Selbstunternehmertum und vollständig epilierten Körpern erschöpft. Dieses Bedürfnis ist legitim und verständlich. Und: Die zumeist ebenfalls jungen autonomen Gruppen mit ihrem laut skandierten „a-anti-anticapitalista“ waren deutlich näher dran an den Befindlichkeiten des Gros der Teilnehmer als das Geschwätz auf der Bühne. Junge Protestler bevölkern auch die aus allen Nähten platzenden Aktionscamps: internationale Orte des Zusammenlebens, Kennenlernens, Diskutierens und Lernens, die auf überraschend erholsame Weise frei sind von Statussymbolen und Werbung.
Doch anstatt mit diesen Leuten lebendige theoretische Entwürfe zu entwickeln oder auch an lebensnahen, konkreten Reformanliegen zu arbeiten, debattiert das alternative Justemilieu nun lieber über Gewalt, vulgo: den Hooliganismus der Autonomen. Den Takt geben dabei die Sicherheitsorgane vor.
Die Medien haben wenig über die Atmosphäre berichtet, die am Samstag in Rostock herrsche: menschenleere Straßen, geschlossene Geschäfte und Gaststätten, vernagelte Schaufenster und in jeder Nebenstraße Mannschaftswagen der Polizei. Heißt man so friedliche Demonstranten willkommen?
Tatsächlich hat die Polizei durchaus robust auf die ersten Attacken reagiert: Die Beamten drangen keilförmig in den Kundgebungsplatz ein und brachten dabei Massen von Unbeteiligten zum Rennen. Von Deeskalation war keine Rede: Weit und breit war kein Konfliktmanager zu sehen. Von einer neuen Qualität der Gewalt kann keine Rede sein. Genauso wenig wie von 1.000 Verletzten – es sei denn, man zählt jedes vom Tränengas gerötete Auge doppelt.
Trotzdem reduziert sich Globalisierungskritik seit Samstag auf die Gewaltfrage. Und die kommt den Vertretern der G-8-Staaten mehr als gelegen. Denn so können sie bemänteln, dass sie, wie sie sich da versammeln hinter ihrem Zaun und ihren Sicherheitskräften, kaum mehr sind, als eine heillos zerstrittene Machtclique, die angesichts der selbstverursachten Probleme zwischen Ausgrenzung, Klimawandel und Kriegsfolgen nicht mehr zu vermelden hat als ein entschiedenes: Weiter so!
Da ist die Frage, die die Gipfelausgabe des britischen Magazins turbulence stellt, schon interessanter: Was würde es eigentlich genau bedeuten, wenn „wir“, die Protestler und Gipfelstürmer, uns durchsetzten würden?
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