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Archiv-Artikel

Betr.: Brief zum Mauerfall

Berlin, vom 9. auf den 10. Nov., 3:30 Uhr

Liebster Klaus,

heute Nacht mußt Du mein Freund sein. Das ist so unglaublich, was hier passiert. Es hat alles mit dem Gefühl angefangen, Rollschuh zu laufen, ohne Rollschuh anzuhaben. Zuerst hat es keiner so richtig verstanden, außer dem Moderator auf SFB2, dem blieben die Worte im Hals stecken, die Mauer soll auf sein, die Mauer ist auf. Nur Leute, die Berlin lieben, können das verstehen. Eine Spannung baute sich auf, die Luft zum Zerreißen. Peng – auf einmal ging mein Computer kaputt. Okay. Nichts hielt mich mehr. Ich wollte zum Moritzplatz. Unterwegs traf ich Josefa. „Die Mauer ist auf.“ „Du spinnst.“ „Doch“, sage ich. Wir sind zusammen hin. Am Moritzplatz kamen vereinzelt Leute von Ost-Berlin rüber, jeder wurde beklatscht. Wir standen rum, warteten, froren, guckten. Die O-Berliner kamen raus, weinten, lachten. Diese Emotionen, das kannst Du Dir nicht vorstellen. Und alle hatten das Gefühl, Rollschuh zu laufen, ohne Rollschuh anzuhaben. Dann kam der erste Trabant durch die Absperrungen, beklatscht und beklopft, Sektkorken knallten. Einer steckte jedem Auto, das kam, Geldscheine durchs Fenster. Die Leute heulten Rotz und Wasser. Siehst du die Berliner? Manchmal sind sie die Göttlichen, die viel und wenig sind und es wissen und einfach nur noch lieben. Deshalb, Klaus, auch dieser Brief. Ich weiß nicht, wohin mit dieser Spannung . . .

Waltraud Schwab ist taz-Redakteurin und zitiert hier aus einem Brief an ihren Ex-Freund