: Bessere Welt
Sie kümmert sich um Menschen, die außer Problemen nur noch wenig besitzen. Und sie pfeift dabei gut gelaunt auf Konventionen und Konfessionen. Judith Giesel ist die Leiterin der Diakonischen Beratungsstelle in Stuttgart und eine Mischung aus Katastrophe und unerhörtem Glücksfall in einem
von Anna Hunger
Es ist Donnerstag, kurz vor halb zwölf, Suppentag. Judith Giesel, 41 Jahre alt, schwarzer Hosenrock, eine kunstvoll geschmiedete Kette um den Hals, sieht eher nach Vernissage aus als nach evangelischer Seelsorge. Sie ist die Leiterin der Diakonischen Beratungsstelle „Kompass“ in der Stuttgarter Hospitalstraße und berät täglich Menschen, die außer vielen Problemen oft nur wenig besitzen. Normalerweise kochen sie und ihre zwei Ehrenamtlichen in der winzigen Kochnische hinten rechts im Laden Linsen-Curry oder Gazpacho oder sonst was Leckeres, aber heute sei's zu kalt für kalte Suppe. Deshalb gibt es Gemüsebrühe mit Knöpfle. Giesel wirft Karotten und Lauch in einen enormen Kochtopf. Eine würzige Wolke dampft aus dem Kessel.
Währenddessen organisiert sie per Telefon einem Ehepaar zwei Arbeitsstellen, trinkt eine Tasse Kaffee, raucht zwei Zigaretten und weist Praktikantin Ayse ein. „Ayse mit Kopftuch“, sagt Giesel immer, und alle lachen: Mitarbeiter, Gäste und vor allem Ayse, weil man über Kopftücher in einem politisch korrekten Deutschland eigentlich keine Witze machen darf. „Wir sind immer zuständig“, schärft Giesel ihrer Praktikantin ein. „Egal für was.“ Diese dauernde Nichtzuständigkeit von Ämtern und überbürokratisierten Stellen sei eine Krankheit.
Ihr Motto: Kann ich dran sterben? Nein? Also
Die Leiterin von Kompass ist von Haus aus evangelisch, besucht aber lieber katholische Gottesdienste, wenn überhaupt. Sie betet weder vor dem Essen noch vor dem Zubettgehen. Sie glaubt an Gemeinschaft und Blues und Jazz und schöne Momente – und hat zum Entsetzen ihrer evangelischen Vorgesetzten eine muslimische Praktikantin eingestellt. Das Problem an Ayse, sagt Judith Giesel, sei sowieso nur, dass sie Ayse heißt. „Hieße sie Heidi Müller, hätte nicht mal einer gemerkt, dass sie da ist.“ Giesel pfeift auf Konfessionen und Konventionen, sie ist frech und laut, schreibt nur dann Statistiken, wenn es notwendig ist, und erledigt am liebsten alles auf dem kleinen Dienstweg. „Kann ich dran sterben oder ins Gefängnis kommen? Nein? Also.“ – Das ist ihr Motto. Alles in allem ist Judith Giesel eine Mischung aus einer Katastrophe und dem Besten, was der evangelischen Kirchengemeinde in Stuttgart passieren konnte.
Am Suppentisch in der Hospitalstraße sitzt Diakon Wolfgang Nebel, neben ihm eine Frau mit Diamantring und Perlenkette – Mitglied in einem exquisiten Charity-Klub für betuchte Damen, zwei Ehrenamtliche, drei Nichtehrenamtliche, die trotzdem da sind und helfen, zwei Mitarbeiter der Diakonie und drei andere, die die Gesellschaft vergessen hat und die man landläufig „Bedürftige“ nennt. Eine Hartz-IV-Empfängerin zum Beispiel, die sich freut, weil man in Judith Giesels Diakonieladen einfach mal sitzen kann, ohne ein Formular ausfüllen oder irgendwas bezahlen zu müssen.
Etwas Luxus für Leute, die sich Luxus nicht leisten können
Wer hierherkommt, ist für ein, zwei Stunden nicht mehr bedürftig. Er sitzt auf roten Kissen an einem schwarz lackierten noblen Esstisch, der mit roséfarbenen Rosenköpfen dekoriert ist, die in Glasschalen schwimmen. „Das Interieur hat Judith Giesel ausgesucht“, sagt der Diakon und sieht stolz aus. Reiche Damen sollen sich hier ebenso wohlfühlen wie arme Schlucker, Begegnung in Reinform. „Achtung“ nennt Giesel das. Bedürftigkeit sei nicht nur Lebensmittelsicherung. Sondern auch das Bedürfnis nach Schönheit, nach Servietten, Zucchini-Creme-Suppe mit Mandelsplittern und gehobener Gesellschaft. Deshalb gibt es im Kompass zur Suppe ein bisschen Luxus für Leute, die sich so etwas nicht leisten können.
Vor zwei Monaten hat Judith Giesel einen Flügel aufgetrieben. Wohin sie ihn stellen möchte in dem winzigen Raum, mit Secondhand-Bibliothek und Kinderspielecke, weiß keiner. Wird sich aber finden, ebenso ein Pianist, der sie begleitet, wenn sie gemeinsam „Ein bisschen Frieden“ singen oder auch „Wenn bei Capri die rote Sonne …“ So was hätt's früher nicht gegeben in einer kirchlichen Einrichtung, dass man da Schlager singt, sagt einer, der mal ein großes Problem hatte und seitdem regelmäßig hierherkommt, obwohl es schon lange gelöst ist. Er kommt „wegen der Judith“. Weil die immer so gute Laune hat und so gut zuhören kann. Ab und zu bringt er Apfelsaft mit von der eigenen Streuobstwiese. Boskop, naturtrüb. Im Hintergrund singt Hannes Wader. Wader ist Giesels Lieblingsliedermacher, bisschen Kitsch, bisschen Sozialismus. „Manchmal träume ich schwer, und dann denk ich, es wär Zeit zu bleiben und nun was ganz and’res zu tun.“
Was anderes tun – das tut Giesel dauernd. 1992 hat sie eine Familienbegegnungsstätte gegründet, in Sondershausen, Ostdeutschland. Sie sitzt draußen vor ihrem Laden in der Stuttgarter Hospitalstraße, löffelt Milchschaum von ihrem Kaffee Latte und erzählt aus ihrem Leben. Nach der Begegnungsstätte hat sie ein Jugendhaus aufgemacht, dann einen Eine-Welt-Laden, sie hat ein Café eröffnet, eine Suchtberatungsstelle aufgebaut und noch vieles mehr, der Kaffee ist längst leer, als sie aufhört zu erzählen. Judith Giesel blieb aber immer nur eine Weile in ihren Projekten. „Wenn es ohne mich läuft, kann ich gehen. Ich muss nicht bleiben, bis ich entbehrlich bin.“ Sie ist eine Getriebene, sie möchte die Welt verändern, seitdem sie gemerkt hat, dass sie sie nicht retten kann. Das war 1989. Als die Mauer fiel, saß die damals 19-Jährige in Thüringen beim Schachspielen, und plötzlich gab es all das nicht mehr, was sie befreien wollte.
Ihr erster Freund hat sie für die Stasi bespitzelt
Sie wuchs in Sondershausen auf, einer thüringischen Stadt, die außer dem Komponisten Max Reger und dem Panzerregiment 11 der NVA nur wenig zu bieten hatte. Der Vater war Parteisekretär, die Mutter Näherin in der „Wäscherei des Gesundheitswesens“. Mit 16 fragt sie ihren Staatsbürgerkundelehrer, ob man nicht die Mauer auf der Ostseite mit Blumen bemalen könne, weil sie auf dieser Seite doch keine Bedrohung bilde. Das war vermutlich der Zeitpunkt, zu dem die Stasi eine Akte „Judith Giesel“ anlegte und mit Informationen füllte, die ihr erster Freund über sie sammelte. Das sei heute so weit weg, sagt sie. Aber zum ersten Mal an diesem Tag lacht sie nicht mehr. Die Akte liegt in einer alten Schachtel, ganz unten, da, wo man schmerzhafte Erinnerungen aufbewahrt. „Ich dachte immer, die haben so viele Menschen überwacht, da wird die Giesel nicht dabei sein.“ War sie aber. Weil sie in einer Kneipe einen Literaturkreis organisierte und Gedichte von Reiner Kunze, dem DDR-Dissidenten, rezitierte. Eigentlich habe die Stasi sie anwerben wollen, steht in der Akte. Man habe sie aber dann doch für untauglich befunden. Dafür hat einer reingeschrieben, das Essen zu ihrer Hochzeit sei „primitiv“ gewesen. Darüber kann sie sich immer noch aufregen, war doch ein schönes Fest, Gartenparty, drei Tage lang.
Als sie 15 war, kam sie durch Freunde zur Kirche. Das gab Ärger mit dem Vater, weil er der Meinung war, nur das, was die Masse macht, sei das Richtige. Trotzdem ist sie geblieben. Weil das eine Gemeinschaft war, die Spaß machte, sagt sie und erzählt, wie sie dieses Jahr an Pfingsten auf der Konfirmation ihrer Nichte in Jena war. Der Pfarrer habe nach der Predigt sein Akkordeon geschnappt, den Talar abgeworfen und lautstark ein Stück von Rio Reiser gesungen. „Das ist der Osten“, sagt sie vergnügt. Für so was habe sie die Kirche in der DDR geliebt.
Eine ehrenamtliche Helferin kommt an den Kaffeetisch. Ob Giesel mal kurz ein paar Flyer entwerfen könne für den Flohmarkt am Wochenende. Es dauert eine halbe Stunde, dann sind die Zettel geschrieben, ausgedruckt, zugeschnitten, fertig. Giesel sitzt wieder am Kaffeetisch.
Als die Mauer fiel, dachte sie: „Wo gehen wir nun mit unseren Ideen hin?“ Eigentlich, sagt Giesel, wollten wir die DDR reformieren und nicht geschluckt werden. Das Schlimme an diesem wiedervereinigten Deutschland sei, dass man nun Gedichte rezitieren kann, solange man Lust hat. Es interessiert keinen mehr. „So ein ordentliches Feindbild ist doch was wert.“ Heute ist ihr Feindbild kein Regime mehr, sondern ein soziales System, das an vielen Stellen aus Angst und Frust besteht, aus einem Treten von oben nach unten und von Menschen, die das alles nicht mehr packen. Diese Menschen kommen zu Judith Giesel.
Giesel verkörpert das, was man Nächstenliebe nennt
Da gibt es eine, die fast weint wegen eines Bewerbungsfotos. Es war dem Mann beim Jobcenter nicht gut genug, erzählt sie. Dabei war es so teuer. Eine andere muss aus ihrer Wohnung ausziehen, weil die Miete plötzlich teurer geworden ist und nun über der Bemessungsgrenze liegt. Die Frau hat vierzig Jahre dort gelebt. Manchmal kommt auch eine Iranerin vorbei. Sie ist aus ihrer Heimat geflohen, weil sie dort gefoltert worden war. Sie floh nach Deutschland, wurde in eine Arbeitsstelle vermittelt. Ihr Vorgesetzter war ein Iraner. Die Frau kündigte vor lauter Angst, das Arbeitsamt strich ihr die Leistungen, Judith Giesel zog vors Sozialgericht und gewann.
Kurz vor halb fünf im Diakonieladen. Giesel steht hinter der Kaffeetheke mit der italienischen Espressomaschine und köpft eine Flasche Sekt. Sie trinken auf eine Mitarbeiterin, die genau an diesem Tag vor 21 Jahren einen Herzinfarkt hatte und immer noch lebt. Der Mann, der immer den Apfelsaft spendet, möchte auch auf etwas anstoßen, nur worauf, weiß er nicht genau. „Auf, auf, denk dir was aus, damit wir endlich trinken können“, ruft Judith Giesel und hebt das Glas. Der Mann überlegt hastig, dann sagt er: „Ach, was soll's. Ich fühl mich grad richtig wohl.“ Dann trinkt er auf „die Judith“.
Judith Giesel verkörpert das, was man Nächstenliebe nennt. Sie kümmert sich so sehr um andere, dass ihre Freunde sagen, sie vergesse sich darüber manchmal selbst. Sie hat keine Wünsche, außer Spaß zu haben im Leben, Spaß an einer Schlagbohrmaschine und einem Silberbesteck. Weil sie gerne mit großem Gerät arbeitet und weil Silberlöffel eben hübsch sind. Sie selbst sagt von sich, sie sei ein zutiefst gläubiger Mensch. Aber wenn man sie fragt, ob sie an Gott glaubt, denkt sie lange nach. Dann erzählt sie, wie sie auf einem Konzert war, Angelique Kidj, Dianne Reeves und Lizz Wright auf einer Bühne, drei schwarze Soul-Sängerinnen, die jede für sich die Konzerthalle gefüllt hätten.
Sie habe gespürt, dass sich die Frauen mochten, keine Konkurrenz, kein Neid, nur gemeinsame Musik. „Das war so wunderschön“ sagt Judith Giesel. „Das war Gott.“