: Es klickt im Hirn
Sind Konzertplakate Kunst? Mitunter, sagen die beiden Sammler und Soziologen Lutz Hieber und Gisela Theising. Derzeit ist ihre Sammlung mit Konzertplakaten aus über 30 Jahren Pop-Geschichte im Historischen Museum Hannover zu sehen
VON KLAUS IRLER
Sieht aus, als wären es Hieroglyphen: Ein Geheimcode aus blauen Schriftzeichen auf magentafarbenem Hintergrund – und keine Chance, ihn zu entschlüsseln. Dabei handelt es sich bei dem Stück Papier um ein Konzertplakat, und die Schriftzeichen sollen vermitteln, wer da wann und wo auftritt. Eine Panne? Überhaupt nicht. „1967 wusste jeder, der das Plakat gesehen hat, wo er hin muss“, sagt der Sammler und Kultursoziologe Lutz Hieber. „Man muss das Plakat nur mindestens drei Minuten betrachten, dann wird alles klar.“ Der Trick: Das Blaue ist nicht die Schrift, sondern der Zwischenraum zwischen den magentafarbenen Buchstaben. Es handelt sich bei dem Schriftzug um eine Art Kippbild, bei dem das Hirn erst umschalten muss, um Worte und Zahlen zu erkennen.
Das ist dann schon mal höchst erfreulich: ein Plakat, das nur mit Entschleunigung funktioniert, anstatt dem Betrachter möglichst schnell und direkt die Botschaft in den Kopf zu hämmern. Sowas ging wahrscheinlich nur im Jahr 1967 in San Francisco. Denn da gab es psychedelisch gestaltete Plakate, und die waren „verflochten mit der damaligen Gegenkultur“, sagt Hieber. Wobei das entschleunigte Kippbild, gestaltet übrigens von Victor Moscoso für einen Auftritt der „Miller Blues Band“, nicht die einzige Strategie war, um eine Gegenposition zu formulieren: Abgebildet hat man beispielsweise auch gerne den feminisierten Dandy mit langen Haaren als Gegenfigur zum Soldaten in Vietnam. Oder Indianer, mitunter mit einem Joint, statt mit einer Pfeife.
Überraschend ist, was die psychedelischen Plakate der Hippie-Ära hergeben in puncto künstlerischer Gestaltung und politischer Aussage. Zumindest jene psychedelischen Plakate, die das Hannoversche Sammlerpaar Gisela Theising und Lutz Hieber seit Ende der 1980er Jahre zusammengetragen hat und derzeit im Historischen Museum Hannover zeigt. „Music is my only friend“ heißt die Ausstellung, und die psychedelischen Plakate bilden darin eine Abteilung. Weitere Sektionen widmen sich den Arbeiten des deutschen Plakatkünstlers Günther Kieser, des Schweizers Niklaus Troxler und der US-Amerikaner Frank Kozik und James Stark. Gezeigt wird außerdem der 2004 verstorbene hannoversche Graphiker Uli Mundhenke, der 1973 beispielsweise das Plakat für das Rock-Festival Scheessel machte, den Vorgänger des heutigen Hurricane-Festivals.
Sämtliche ausgestellten Plakate stammen aus der Sammlung Theising/Hieber, die rund 2.500 Jazz-, Blues- und Rockplakate im Erstdruck umfasst. Zwischen 300 und 15.000 Dollar lägen die Preise, je nach Auflage, sagt Gisela Theising. Wobei die beiden Sammler kein einziges der Exponate in ihrer Wohnung in Hannover aufgehängt haben: „Die sind zu lichtempfindlich.“ Also lagern die Plakate in Schutzhüllen verpackt zu Hause unterm Bett.
Für Theising, Studiendirektorin an der Berufsbildenden Schule 3, und Hieber, Professor für Kultursoziologie an der Leibniz Universität Hannover, sind die Plakate auch Gegenstand ihrer Forschungen. Theising und Jimi Hendrix zum Beispiel: Ein berühmtes Plakat aus dem Jahr 1967 zeigt Hendrix, wie er mit der Hand an der Kette um seinen Hals spielt. Theising hat diese Geste auch bei Pin-up-Fotos von Marilyn Monroe entdeckt und als aufreizende feminine Geste identifiziert: wiederum ein Beispiel für Feminisierung als Zeichen des Widerstands der Gegenkultur, sagt Theising.
Soweit die Forschung. Darüber hinaus aber verfolgen Gisela Theising und Lutz Hieber das Ziel, das Plakat in der Wahrnehmung des Kunstbetriebs aufzuwerten: „Wir betrachen Plakate als Kunst“, sagt Theising. Und Hieber möchte, dass das Plakat den Ort findet, „der ihm als druckgrafische Gattung zukommt: im Kunstmuseum“. Wie in den Vereinigten Staaten, wo sich beispielsweise das New Yorker Museum of Modern Art eine Plakat-Abteilung leistet.
In der hannoverschen Ausstellung ist der Wille zur Kunst an vielen Stellen zu sehen, am nachdrücklichsten aber sicher bei den Arbeiten von Günther Kieser. Der gestaltete die Plakate für die Deutschland-Tourneen beispielsweise von „Procol Harum“ (1971), Santana (1972) oder Frank Zappas „Mothers of Invention“ (1968). Dabei stellte Kieser gern Assemblagen oder Plastiken her, bearbeitete beispielsweise einen Gitarrenkorpus oder einen Kunststoff-Totenschädel und lichtete die Gegenstände schlicht mit dem Fotoapparat ab. Die Schrift kam dann als eigenständiger Bestandteil dazu.
Sicher weniger an Kunstbegriffen orientiert, dafür recht eigen im Humor geht fast 30 Jahre später Frank Kozik vor. Der gebürtige Spanier greift in seinen Plakaten für Undergroundbands auf Comics und Horrorvideos zurück. Das Kind liegt zerfleischt im Gehege und Kozik merkt rechts oben im Plakat an: „Zoo Sicherheitshinweis Nr. 17. Versuche niemals, einen Gegenstand zurückzuholen, der in das Gehege eines Tieres gefallen ist. Bitte stets einen Zoowärter um Hilfe.“ Heute wird Kozik auch von Nike und Absolut Wodka engagiert.
Nun haben es diese Plakate zwar nicht in ein deutsches Kunstmuseum geschafft, dafür ist im Historischen Museum in Hannover möglich, was den beiden Soziologen wichtig sein muss: Zu jeder Plakat-Sektion gibt es eine Wand mit Informationen über das politische und gesellschaftliche Geschehen des jeweiligen Jahrzehnts. Es gehe um die Sichtbarmachung der ursprünglichen Lebensbezüge, schreibt Hieber, und Theising sagt: „Ein wichtiger Punkt von Kunst ist, dass sie ins Alltagsgeschehen eingreift.“ Und sei es als Diskussion über die Ausprägung ihres Kunstcharakters.
bis 23. September
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