: „Die heile heilige Familie gibt es nicht“
ANDERS FEIERN Die Altonaer Kirche bietet anstatt mau besuchter Festgottesdienste vom 26. Dezember bis zum 6. Januar Andachten zu den zwölf heiligen oder Raunächten. Da gibt es weder Krippe noch Baum, aber das Haus ist voll
VON FRANK KEIL
Was kann man darüber erzählen, was hier passieren wird? Wie in Worte fassen, was hier stattfindet, wo wir doch an einem Ort sind, an dem das Reden zurücksteht, damit Raum wird für Stille? „Das Wichtigste ist die Atmosphäre, und die kann ich Ihnen gar nicht beschreiben“, sagt Irmgard Nauck, Pastorin in der Gemeinde Altona Ost.
Wir gehen durch den Andachtsraum. Ein Altar fehlt, ebenso die knarzenden Stuhlreihen. Nirgendwo ist eine Orgel zu entdecken. Auch keine Tafel mit der Lied-Abfolge, denn die kirchliche Zeit nach dem Heiligen Abend wird hier ganz besonders begangen: Vom 26. Dezember bis zum 6. Januar – dem Tag der Heiligen Drei Könige – ist die Kirche der Stille ab kurz vor 18 Uhr für je gut eine Stunde geöffnet. Gefeiert werden in dieser Zeit die zwölf „heiligen Nächte“.
Chance für neue Wege
Pastorin Irmgard Nauck führt in einen kleinen, sanft beleuchteten Nebenraum. Wir setzen uns, nehmen einen Schluck Tee, und sie erinnert sich. Das fängt 1995 an, als sie Pastorin wurde und die ersten Weihnachtsgottesdienste aus einer anderen Perspektive erlebte: „Am Heiligen Abend waren unsere Häuser proppenvoll, aber dann ging das in den Jahren rapide zurück. Erster und zweiter Weihnachtstag zählten eigentlich kaum noch. Wir haben dann auch den einen oder anderen Gottesdienst am zweiten Weihnachtstag gelassen – weil sowieso keiner kam“, sagt sie. Aber sie dachte: „Wieso eigentlich? Jetzt fängt Weihnachten doch erst an – und wir bieten nichts an?“ Abgesehen natürlich vom Silvestergottesdienst und den normalen Sonntagsgottesdiensten an den Tagen zwischen den Jahren.
Dabei ist die Einwohnerschaft des innenstadtnahen und beliebten Altona in den letzten Jahren emsig gewachsen. Neubauten mit aufwändig gestalteten Glasfassaden und imposanten Dachgärten schmiegen sich eng aneinander; kaum noch gibt es unbebaute Fläche. Aber die Kirche der Stille habe davon nicht profitieren können, sagt Pastorin Nauck: „Wir müssten eigentlich überlaufen sein, doch die Zahl der Austritte ist größer, als wir Mitglieder durch Zuzug hinzubekommen.“ Und nichts deutet darauf hin, dass sich dieser Trend stoppen oder gar umkehren lässt. Deshalb sagt Irmgard Nauck: „Wenn Kirche im 21. Jahrhundert bestehen will, muss sie neue Wege gehen.“
Diese Chance, einen neuen Weg zu erkunden und zu beschreiten, ergab sich vor fünfeinhalb Jahren, als mehrere Altonaer Gemeinden zusammengelegt und ihre neugotischen Backsteinkirchen ihre Funktion als klassische Gemeindekirchen verloren.
Zugleich wurde Raum für Neues frei: eine der Kirchen wurde Friedens- und Stadtteilkirche, eine andere suchte mit kulturellen Angeboten eine Brücke zu den kirchenflüchtigen Bürgern zu schlagen. Und aus der ehemaligen Christophoruskirche wurde eben die ‚Kirche der Stille‘. Damals ahnten deren Initiatoren nicht, dass der Ruf nach Gelassenheit, nach Meditation und Ruhe so anwachsen würde.
Auch verlief diese Umstrukturierung nicht ohne Widerstände, denn die Idee einer Kirche, in der bewusst nicht wortreich gepredigt wird, in der also das Schweigen zentral ist, rüttelt am Fundament der Institution: „Wenn wir eine Kirche entleeren und nicht mehr nach Osten ausrichten, sondern das Zentrum in der Mitte setzen; wenn wir der Kirche des Wortes – und das ist die protestantische Kirche seit Martin Luther – das Schweigen gegenüberstellen, ist das für viele Protestanten eine Infragestellung“, sagt Nauck. Da hätten manche vermutet, dass man einem Modetrend folge und sich den östlichen Religionen anheimgebe, wenn man auch Zen- und Sufimeditation im Kirchenraum anbiete.
Pastorin Nauck und ihre Mitstreiter wollten aber genau das: interreligiös arbeiten und das, was Menschen spirituell bewegt, nebeneinander gewähren lassen, ohne die christlichen Wurzeln zu kappen. Denn nach wie vor sei sie selbst, sagt Nauck, mit ganzem Herzen Gemeindepastorin.
Ritualisierte Andachten
Und nun also Weihnachten. Das Fest, wo selbst kirchenferne Menschen zuweilen den Wunsch verspüren, die Kirche nebenan mal wieder von innen zu betrachten. „Gerade ich als Pastorin fühlte mich damals sehr herausgefordert zu überlegen, was unser Konzept der Stille für den Gottesdienst bedeutet. Und auch zu fragen: Wie sieht dann Weihnachten aus? Weihnachten ohne Tannenbaum?“ Nauck lacht. So, als sei das wirklich eine lustige Idee, Weihnachten ohne Baum, in dem bunte Kugeln hängen.
Ein Buch hat ihr dann auf die Sprünge geholfen: „Zwölf Nächte – Was Weihnachten bedeutet“, verfasst vom Theologen Jörg Zink. Sein Text habe ihr unter anderem die mystischen Rituale früherer Zeiten nahegebracht, sagt Nauck. Zum Beispiel den Brauch der Bauern im Voralpenland, zwischen den Jahren die Ställe ihrer Tiere auszuräuchern: um Krankheiten und Böses zu bannen das neue Jahr wohlbehalten und gesund zu beginnen.
So entwickelte sie mit Gleichgesinnten eine Idee, wie man wieder an diese Tradition anknüpfen könne; wie man die Abende zwischen dem gehenden und dem kommenden Jahr für eine Begegnung etablieren könne. „Und es war mir gleich, ob nun vier oder fünf Besucher kommen würden“, sagt Nauck.
Doch diese Skepsis erwies sich gleich im ersten Jahr als unbegründet: 20 bis 40 Interessenten kamen pro Abend. 2014 – sechs Jahre später – dürften es allabendlich wohl zwischen 90 und 120 Besucher werden. Längst muss genau überlegt werden, wie die Menschen in konzentrischen Kreisen auf Meditationskissen oder Stühlen sitzen, damit Platz für alle ist.
„Es ist erstaunlich, wie viele Menschen unserer Einladung folgen, die wir ja nicht groß veröffentlichen. Wir verteilen keine Flyer, es geht nur von Mund zu Mund“, sagt Nauck. Manche kämen an jedem der zwölf Abende, andere nur einmal oder zu einzelnen Abenden.
Was an so einem Abend passiert? Da gibt es einleitende Musik, ein kleines Gedicht, vielleicht ein Lied, eine kurze Ansprache. Es wird viel gesungen, meist improvisiert. „Bei uns gibt es keine Noten“, sagt die Pastorin. Zugleich seien die Abende nahezu gleich, ritualisiert, damit sich die Menschen wiederfinden.
Aber es bleibt auch Platz für das Bedrückende. „Weihnachten ist auch eine sehr spannungsreiche Zeit“, sagt Nauck. Und Weihnachten werde ja immer stärker emotional aufgeladen. „Denken Sie an die vielen Patchworkfamilien: Vater, Mutter und Kind gehen zum Gottesdienst, gehen zum Krippenspiel: Das gibt es immer weniger.“
Segen auf Wunsch
Und selbst wenn: Harmonie über die Weihnachtstage bedeutet das noch lange nicht, und hier bietet die Kirche der Stille am Abend des Neujahrstages Abhilfe: „Dann besteht die Möglichkeit, einen persönlichen Segen zu bekommen. Wir sind zu viert, stehen an unterschiedlichen Plätzen, und die Leute kommen, sagen ihren Vornamen und erklären, wofür sie den Segen bekommen wollen“, sagt Pastorin Nauck. Dabei gehe es oft um ungelöste Konflikte. „Und dann sprechen wir einen frei formulierten Segen.“
Vorlage dafür ist auch die biblische Weihnachtsgeschichte. Gerade die erzähle ja davon, dass das Leben nur mit Brüchen zu haben sei, sagt Nauck. Schon dass die Maria – von wem auch immer – schwanger ist und Josef überlegt, sie zu verlassen, weil sie ihn betrogen hat, biete Stoff zur Reflexion, sagt Nauck.
Dann die Unterkunft in einem schäbigen Stall, die Bedrohung durch den mordenden König Herodes: „Die heile heilige Familie, wie sie zelebriert wird und in unser Wohnzimmer einziehen soll, gibt es in der Legende, wie sie uns erzählt wird, gar nicht“, sagt Nauck.
Heilige Nächte: 26. Dezember 2014 bis 6. Januar 2015, ab 18 Uhr, Kirche der Stille (Helenenstr. 14a, Altona).