: Musik als Grenzüberschreitung
MUSIK Das heute beginnende Bremer Musikfest streckt seine Fühler erstmals bis Hamburg aus und wächst auch quantitativ immer weiter. Qualitäten finden sich ohnehin zu Hauf
Von HENNING BLEYL
Wenn heute Nachmittag, gerade rechtzeitig zur „Großen Nachtmusik“ rund um den Marktplatz als Beginn des 22. Musikfestes, der Regen aufhört, ist durchaus nicht alles wie immer. Vielmehr ist das Festival schon wieder gewachsen. Es hat mehr Spielstätten – 2009 waren es 19, dieses Jahr sind es 29 –, hat weitere Sponsoren gewonnen und fast 20 Prozent mehr Veranstaltungen als im Vorjahr, was die Zahl der angebotenen Karten auf gut 27.000 erhöht. Nichtsdestoweniger hat sich die Intendanz dazu durchgerungen, die „angestrebte Auslastung“ des dreiwöchigen Konzertreigens auf 75 Prozent heraufzusetzen. Was auch ein Ende der Praxis darstellt, die Wahrscheinlichkeit, bei der späteren Bilanz von „übertroffenen Erwartungen“ zu sprechen, trickreich zu erhöhen. Anders ausgedrückt: Die Latte hängt jetzt angemessen hoch.
Was das Programm angeht, dürfen die Veranstalter zu Recht auf Zuspruch hoffen. Mit dem Royal Concertgebouw aus Amsterdam kommt kommenden Mittwoch eines der derzeit drei weltbesten Orchester in die Glocke, unter der Leitung von Andris Nelsons spielt es unter anderem Wagners Rienzi-Ouvertüre. Da diese unter anderem zur Eröffnung der NS-Parteitage herhalten musste, ist das Werk auch rezeptionsgeschichtlich spannend.
Schon zwei Tage später winkt mit dem Programm „Hasse & Händel“ nicht nur eine produktive Komponisten-Kombination, sondern ein ebensolches Sängerinnen-Zusammentreffen: Wenn Veronica Cangemi und ihre aus Alaska stammende Kollegin Vivica Genaux gemeinsam auftreten, klirrt soprangesättigter Wohlklang in den Ohren des Publikums.
Schöne Worte hat auch Wirtschaftssenator Martin Günthner gefunden, dessen Ressort zwar die öffentliche Ko-Finanzierung des Festivals abgegeben hat, dessen Staatsrat aber immer noch dem Aufsichtsrat vorsitzt. Günthner also sieht „diese musikalischen Brückenschläge mit ihren erfrischenden Impulsen“ als „willkommene Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen und Partnerschaften zu pflegen“ – womit der Wirtschaftssenator vor allem die zwischen Bremen und der Metropolregion meint.
In der Tat findet mittlerweile fast die Hälfte der Bremer Musikfest-Konzerte außerhalb der Landesgrenzen statt. Zwar ist das post-Stolberg‘sche Spiekeroog nicht mehr mit von der Partie, auch Aurich und Cuxhaven sind dieses Jahr außen vor. Dafür wird endlich auch Hamburg eingemeindet: Thomas Albert höchstselbst, der Musikfest-Intendant, führt die musikalische Expedition nach Hamburg-Neuenfelde an, wo er mit dem gerade gegründeten Arp-Schnitger-Ensemble auftritt. Inhaltlicher Hintergrund der Ortswahl ist der Umstand, dass der berühmte Orgelbauer Schnitger in der dortigen St. Pankratius-Kirche begraben liegt. Ihm wird seit 2010 ein Festival im Festival gewidmet, um die nordwestdeutsche Orgellandschaft ins Bewusstsein zu rücken. 2019, zum 300. Todestag des aus der Wesermarsch stammenden Orgelbauers, sollen seine immerhin bis Brasilien gelangten Instrumente insgesamt gar als UNESCO-Weltkulturerbe angemeldet werden.
Auch Massaki Suzuki, der führende japanische Bach-Interpret und diesjährige Preisträger des Bremer Musikfestes, ist am Dienstag zusammen mit einem Schnitger-Instrument zu erleben: In St. Cyprian und Cornelius in Ganderkesee verknüpft er Bach und Buxtehude zu einem Programm in historisch geradezu hochinformierter Aufführungspraxis.
Das Gesamtprogramm: www.musikfest-bremen.de