: Ankunft in Andeutungen
INTEGRATION Das Stadttheater Bremerhaven besucht einen Flüchtling aus Äthiopien für einen „Heimatabend im Exil“. Doch es bleibt eine flüchtige Begegnung an der Oberfläche
VON JENS FISCHER
Einfach mal abbiegen. Heraus aus der ehrlich-schäbigen Shoppingmall „Columbus-Center“ und ihrer brutal-kitschigen Entsprechung, dem „Meditarreno“. Auch die spärlich illuminierte Weihnachts-Pracht der Fußgängerzone links liegen lassen. Auf Klingelschildern stehen urdeutsche Nachnamen – und Kadir. Der wohnt unterm Dach, im Zentrum Bremerhavens: Awwal Kadir, 21, über Tunesien nach Deutschland geflüchtet, über Friedland nach Bremen geschickt.
20 Prozent aller dort ankommenden Flüchtlinge müssen weiter nach Bremerhaven reisen. So wie Kadir. Seit dem 13. September 2012 ist er an der Wesermündung daheim. Heimat?
„Man liest von überfüllten Heimen, von zu wenigen Ressourcen, von Flüchtlingen als Problem – dabei verliert man immer mehr den Blick für die Menschen hinter diesen Zahlen, Fakten und Nachrichten.“ So kündigt das Stadttheater Bremerhaven seinen Wunsch an, „Menschen in Not und auf der Flucht“ kennenzulernen. Und das Kennenlernen öffentlich zu machen. Gerade jetzt, wenn wir Advent – die „Ankunft“ – feiern, will das Theater mal „in persönlichen Geschichten und Erinnerungen über Ankunft und Ankommen, Heim und Heimat nachdenken“.
„Fluchtpunkt – Ein Heimatabend im Exil“ ist die Veranstaltung betitelt. „Ausverkauft“ steht im Spielplan. Nur zwölf Tickets wurden verkauft, für je fünf Euro. Es sollte in eines der sechs Übergangswohnheime gehen, wo derzeit etwa 550 Menschen leben. Doch der Bremerhavener Sozialdezernent Klaus Rosche (SPD) hatte die Standorte der Flüchtlingsunterbringung jüngst zur Geheimsache erklärt (taz berichtete).
„Die Genehmigungen wurden nicht erteilt“, erzählt Dramaturg Lennart Naujoks – „man befürchtete, Zuschauer kämen, um Elendsleute anzugucken“. Also recherchierte er privat. Und fand Awwal Kadir. Er ist einer der etwa 870 Flüchtlinge, so Wohnheim-Koordinatorin Nelly Linke-Vergouwe, die bereits in eine Mietwohnung ziehen durften. Das sei in Bremerhaven nach neun Monaten Heimunterbringung üblich. Trotz entspannterer Wohnungssituation als in Bremen leben die Flüchtlinge in Bremerhaven im Schnitt fünf Monate länger in solchen Wohnheimen als in Bremen.
Nun sind ZuschauerInnen und Theatermacher in Kadirs Wohnzimmer geladen, das ausschaut wie viele erste Singleappartements junger Erwachsener. Eine peu á peu collagierte Einrichtung, dazu bestickte Decken auf dem Sofa, Hafenszenerie an der Wand, DVD über die Heimat im Regal. Darauf: Goldpokale für Kadirs Langlauf-Erfolge. Er kommt aus Äthiopien, dem Land der Marathon-Olympiasieger. Über das er nur in Andeutungen spricht.
Kadir ist in Bremerhaven der einzige Oromo, der größten von etwa 80 Ethnien in dem Staat mit fast 100 Millionen Einwohnern. Gründe für die Flucht? Darf man fragen? Keiner tut es. Amnesty International berichtet, die Oromo seien willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt, es gebe Folter und außergerichtliche Hinrichtungen. Die Stadttheaterleute wollen zu Weihnachten lieber übers größte Oromo-Fest reden: „Irreecha“, eine Art Erntedank, das die christlichen, sunnitischen und animistischen Oromo gemeinsam begehen. Kadir blieb im September nur die Möglichkeit, der American Oromo Community of Minnesota im Internet beim Feiern zuzuschauen.
Hilft Essen bei Heimweh? Die Schauspieler, nach Bremerhaven des Jobs wegen geflüchtet, meinen: Ja. Harald Horváth berichtet, er labe sich wie einst daheim gern an Windbeuteln aus der Tiefkühltruhe, Christian Neuhof kocht Bolognese-Sauce wie bei Muttern. Bei Kadir wird äthiopischer Eintopf – in der Gewürz-blassen Europa-Version – serviert, dazu Maispudding mit Paprikabutter an Joghurt. Den hat allerdings eine eritreische Freundin zubereitet. „In Äthiopien ist Kochen reine Frauensache“, entschuldigt Kadir.
In Deutschland ernährte er sich zuerst nur von Brot mit Nutella. Aber anstatt so ins Gespräch zu kommen, die Begegnung zu moderieren, lesen die Schauspieler flottsam Texte sowie Fragen zum Thema Heimat vor und erinnern an jüngste Ereignisse zur Flüchtlingsfeindlichkeit. Kein „künstlerischer Beitrag“, wie gewünscht. Eher Alibi. Aus Unsicherheit. Wie lernt man sich kennen? „Was machst du gerade, Awwal?“ – „Den Schulabschluss nach.“ Und dann? Vielleicht eine Elektrikerlehre. Und dann ist auch schon Schluss. Es bleibt der Eindruck einer Begegnung. Den man gern vertieft hätte. Da hilft nur: weitermachen – „auf die Suche nach der gemeinsamen Heimat in Bremerhaven“, so Naujoks.