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Archiv-Artikel

Das goldene Schweigen von Manhattan

ZAHLTAG Während die Welt Anteil nimmt, wollen die New Yorker nichts mehr von den Anschlägen hören. Für sie bedeutet der 11. September 2001 vor allem Eines: Geld, das andere mit ihrem Unglück verdienen

Die Zukunft der Baustelle

■ Projektplanung: Am Ground Zero werden in den nächsten Jahren vier neue Tower stehen. Der höchste von ihnen, das One World Trade Center (1WTC), wird 1.776 Fuß hoch sein. Die Höhe nimmt Bezug auf das Datum der Unabhängigkeitserklärung der USA. Das eigentliche Bürogebäude des Turms ist genauso groß wie der Nordturm des alten World Trade Centers. Außerdem entstehen ein Museum und ein Denkmal.

■ Investoren: Kurz vor den Anschlägen pachtete Investor Larry Silverstein die Zwillingstürme. Auch nach den Anschlägen musste er jährlich über 100 Millionen Dollar an die Hafenbehörde zahlen. Inzwischen hat Silverstein das Finanzierungsrisiko für das 1WTC auf die staatliche Behörde abgeschoben. Es ist umstritten, ob genügend Mieter für über eine Million Quadratmeter Bürofläche gefunden werden.

■ Kosten und Fertigstellung: Der Bau des größten Turms wird voraussichtlich über 3 Milliarden Dollar kosten. Er soll Ende 2013 eingeweiht werden. Insgesamt sollen am Ground Zero mindestens 11 Milliarden Dollar verbaut werden – Kritiker schätzen die Summe aber wesentlich höher ein. Die Fertigstellung des gesamten Komplexes könnte sich bis 2037 hinauszögern, besagt eine Studie der städtischen Hafenbehörde.

AUS NEW YORK LINDA HOLZGREVE

Er hätte es gewusst, der Reporter der New York Times. Wer sonst, wenn nicht er? Jim Dwyer hätte erzählen können, was dieses Datum, der zehnte Jahrestag des 11. Septembers 2001, für seine Stadt bedeutet. Was das Datum für seine Zeitung bedeutet. Er war da, als die Türme einstürzten, er hat die Rauchschwaden, die flüchtenden Menschen gesehen und später ein Buch darüber geschrieben. Jim Dwyer weiß, was dieses Datum bedeutet. Aber er will nichts dazu sagen.

Stattdessen schickt er eine E-Mail: „Wenn ich es irgendwie vermeiden kann, schreibe ich dieses Jahr nicht über den 11. September.“ Und dann noch: „Wahrscheinlich bin ich der falsche Ansprechpartner.“

Und auch er hätte es gewusst. Der ehemalige Polizist, der am World Trade Center im Einsatz war, als es sich gerade vom gläsernen Gebäudekomplex in einen Berg aus Schutt und Scherben verwandelte. Der ehemalige Polizist, der anonym bleiben will.

Nein, das Thema müsse nicht wieder aufgerollt werden. Nein, ihn stimmen die Anschläge nicht mehr traurig. Ihn stimmen sie wütend. „Wenn du Geld brauchst in diesem Land, sag einfach 9/11“, sagt er. Es ist die einzige Bemerkung, zu der er sich hinreißen lässt.

Jeder hat diesen Moment

9/11. Zwei Zahlen, drei Ziffern, die die Veränderung der Welt bedeuten. Fast jeder Mensch kann sagen, was er gemacht hat, als in den USA zwei Flugzeuge in zwei Hochhäuser rasten. Wo er welche Bilder gesehen hat, was er gedacht, was gefühlt hat. 9/11, das heißt Angst, Irrsinn, Trauma, Schock, Lähmung und Terror, das auch. 9/11 heißt nicht Geld.

Oder? Doch, heißt es. Ground Zero, die Gedenkstätte, die an 3.000 Tote erinnern soll, hat mittlerweile mehr von einem Rummel als einem Mahnmal. Während das One World Trade Center gerade 541 Meter hoch in den Himmel gebaut wird, verkaufen Straßenhändler orangefarbene T-Shirts, die mit den Twin Towers bedruckt sind. 15 Dollar das Stück. Touristen zücken Scheine für Broschüren mit Aufnahmen des Attentats. Für die Ästhetik des Zerfalls. Und in dem Glaskasten, der hier so lange als „Preview Site“ stehen wird, bis 2012 das eigentliche, 700 Millionen Dollar teure „National September 11 Memorial and Museum“ eröffnet wird, ist der Eintritt zwar frei – die Regale aber sind bis oben mit Kalendern und Kühlschrankmagneten gefüllt.

Daneben, wenige Schritte entfernt, ragt seit einem Jahr das World Center Hotel aus Lower Manhattan. 169 Zimmer, kühl-modern eingerichtet, ganz business und beste Lage, wirbt es mit dem direkten Blick auf Ground Zero. „Wir sind zum Jahrestag gut besucht“, sagt Jane Mackie, Vizepersonalchefin des Hotels. Sie beobachtet, dass die Gäste „schon nachdenklich“ auf die Aussicht reagieren. Aber, sagt Jane Mackie, „es hat sich noch nie jemand beschwert oder fand das unangemessen.“

Das World Center Hotel kommt gut an, es entspricht dem Schick der Gegend, den Männern mit Aktentaschen, den Frauen im Kostüm, die um die Ecke zur Wall Street eilen. Dass Gäste das Hotelpersonal auf die Anschläge angesprochen hätten, das habe es nicht gegeben, erzählt Mackie. Nicht ein Mal.

Die Wunde, die nicht heilt

Allein für seine Reden über die Anschläge kassierte New Yorks Exbürgermeister 20 Millionen Dollar

Das alte Muster, könnte man meinen: der endlose Optimismus der Amerikaner, die ewige Tendenz, alles Schlimme schönzureden oder nicht zu bereden. Doch das wäre zu einfach. Der 11. September 2001 hat sich tief im Bewusstsein der New Yorker verhakt. Und mit jedem Normalbürger, den der Massenmord zum Gewinner gemacht hat, sind die Widersprüche der Gesellschaft aus dem amerikanischen Bewusstsein gekrochen. Also haben die New Yorker wohl beschlossen, zu 9/11 zu schweigen, anstatt sich zu 9/11 zu verhalten.

Nur ein Reporter nicht. Graham Rayman von der Wochenzeitung Village Voice hat sich die Mühe gemacht, die Profiteure der Katastrophe aufzulisten. „The Winners“ nennt er nicht nur die Anwälte der Opfer, die Feuerwehrmänner, die in den Fernsehshows auftreten. Sondern auch New Yorks Exbürgermeister Rudolph Giuliani, der allein für seine Reden über die Anschläge mehr als 20 Millionen Dollar kassiert hat. Giuliani hat auch ein Buch geschrieben, das ihm eine Anzahlung über 2,7 Millionen Dollar einbrachte. Selbst der Plan für sein Baby, die Lower Manhattan Development Corporation, ging glänzend auf. Knapp 10 Milliarden Dollar wurden per LMDC in das Viertel um die monströse Baustelle gepumpt. Um es zu „revitalisieren“.

Und dann wäre da noch die Port Authority, die sich beim Versuch, das neue World Trade Center zu finanzieren, hoch verschuldet hat. Eine kommunale Behörde, die gerade gefordert hat, die Straßen- und Brückenmaut um 50 Prozent anzuheben. Hunderttausende Autofahrer, die zwischen New Jersey und Manhattan pendeln, wären davon betroffen. Was für eine Idee: Die Steuerzahler dafür blechen lassen, dass das Wahrzeichen ihrer Stadt vor zehn Jahren in sich zusammenbrach.

9/11, das ist heute New Yorks Wunde, die nicht heilt, weil zu viele an den Fäden ziehen, die sie zusammenhalten sollen.

9/11, das heißt Angst, Irrsinn, Trauma, Schockzustand, Lähmung, Terror. Und es heißt Goldgrube.