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Es geht um mehr als nur Gemüse

LANDWIRTSCHAFT Lebensmittel direkt vom Bauernhof – solidarische Landwirtschaft heißt das Modell, bei dem sich Verbraucher und Erzeuger zu einer verbindlichen Gemeinschaft zusammenfinden

Grüne Woche – mit Protesten

■ Die gestern eröffnete Grüne Woche findet bis 25. Januar statt und gilt als international wichtigste Messe für Ernährungswirtschaft, Landwirtschaft und Gartenbau. www.gruenewoche.de

■ Auch dieses Jahr gibt es zahlreiche Protestveranstaltungen zivilgesellschaftlicher Bündnisse, die auf die Schattenseiten der Messe hinweisen. Friederike Schmitz von der Aktionsgruppe „Grüne Woche demaskieren!“ zum Beispiel sagt: „Wir wollen mit vielfältigen Aktionen einen kritischen Diskurs über die Folgen der kapitalistischen Landwirtschaft und die immanente Ausbeutung von Mensch, Tier und Umwelt anstoßen. Einen Schwerpunkt bildet dabei das Thema Tierhaltung: Aus Tierrechts- beziehungsweise Tierbefreiungsperspektive wenden wir uns gegen das Gefangenhalten, Verstümmeln und Töten von Milliarden von Tieren im Rahmen der Fleisch-, Milch- und Eierindustrien – und gegen die Verharmlosung dieser Gewalt, die auf der Grünen Woche unter anderem im Erlebnisbauernhof stattfindet.“

■ Die „Wir haben es satt!“-Demonstration unter dem Motto „Stoppt Tierfabriken, Gentechnik und TTIP! Für die Agrarwende!“ findet heute zum fünften Mal statt. Auftaktkundgebung um 12 Uhr am Potsdamer Platz, danach Demo zum Kanzleramt. (heg)

VON MALENE GÜRGEN

Viki Lassu ist Vegetarierin und isst viel Gemüse. Aber wann sie das zum letzten Mal in einem Laden gekauft hat, weiß die Neuköllnerin gar nicht mehr. „Ich glaube, das ist mindestens drei Jahre her“, sagt sie und lacht. Lassu bekommt ihr Gemüse weder aus dem Supermarkt noch aus dem Bioladen, sondern direkt vom Bauernhof.

Die 35-Jährige ist Mitglied bei der Sterngarten-Odyssee, einer Versorgungsgemeinschaft, in der sich BerlinerInnen und Bauernhöfe aus dem Umland zusammengetan haben. Die Mitglieder zahlen 80 Euro im Monat, dafür bekommen sie Gemüse, Obst und Saft geliefert – wie viel und was genau, hängt von der Jahreszeit ab. „Letztes Jahr hatten wir im Winter die große Selleriephase“, erzählt Lassu. „Sellerieschnitzel, Selleriesuppen, Selleriepizza – ich glaube ich kenne jetzt jedes Rezept, das man mit diesem Gemüse kochen kann.“

Solidarische Landwirtschaft heißt dieses Modell, bei dem Verbraucher und Erzeuger sich zu einer verbindlichen Gemeinschaft zusammenfinden. Für die Bauern hat das einen großen Vorteil: Sie haben über das ganze Jahr gleichmäßige Einnahmen, mit denen sie fest rechnen können – anstatt nur dann, wenn gerade Erntezeit ist. Denn bezahlt werden die Bauern nicht pro Kilogramm Möhren oder den Salatkopf, sondern pauschal dafür, dass sie für die VerbraucherInnen Gemüse anbauen – also letztendlich dafür, dass sie Landwirtschaft betreiben.

Das ist aber nicht alles. „Diese Bezahlweise ist vielleicht das am sichtbarsten andere an solidarischer Landwirtschaft, eigentlich geht es aber um viel mehr“, sagt Simon Junge, Gründer der Sterngarten-Odyssee. Für ihn ist diese Kooperation zwischen Verbrauchern und Erzeugern ein soziales, ein politisches Projekt, das eine grundsätzliche Alternative dazu darstellt, wie üblicherweise verkauft und gekauft wird. „In der solidarischen Landwirtschaft geht es darum, dass Menschen sich begegnen“, sagt Junge. Normalerweise hätten Verbraucher und Erzeuger gegensätzliche Interessen: Die einen wollen möglichst billig kaufen, die anderen möglichst teuer verkaufen. „Wenn ich diese beiden Gruppen an einen Tisch bringe, wenn sie zusammen eine Gemeinschaft bilden, dann entsteht etwas wirklich Solidarisches“, sagt Junge. Mal müsse die Gruppe stärker auf die Bäuerin eingehen, mal kommt diese den AbnehmerInnen weiter entgegen. „Der Grundgedanke ist einfach – wir wollen etwas Vernünftiges zu essen, und wir wollen das gemeinsam hinkriegen“, sagt der 36-Jährige, der selbst eine Ausbildung im biologisch-dynamischen Landbau absolviert hat. Ein wichtiger Teil des Models ist Verbindlichkeit: Die VerbraucherInnen sichern die Abnahme zu, die ErzeugerInnen die Versorgung.

Selbstverwaltetes Projekt

Die einzelnen Verbrauchergruppen der Sterngarten-Odyssee – neun sind es zurzeit in Berlin, dazu je eine in Leipzig und in Halle (Saale) – funktionieren wie auch das Projekt als Ganzes selbstverwaltet. Wie sie das Gemüse aufteilen, wie oft sie sich treffen, wer zum nächsten der mehrmals im Jahr stattfindenden Arbeitseinsätzen auf den Höfen fährt, entscheiden die Gruppen für sich. Einmal in der Woche, im Winter alle zwei Wochen, wird das Gemüse mit dem Lieferwagen von den drei kooperierenden Höfen abgeholt, teilweise muss es auch vor Ort noch geerntet werden. Dann wird es zu den zentralen Lieferorten der verschiedenen Gruppen gebracht – das kann ein Bioladen, aber auch eine Privatwohnung sein. Von dort können sich die einzelnen Mitglieder dann ihren Anteil abholen. Alle paar Wochen gibt es Gruppentreffen, viermal im Jahr treffen sich VertreterInnen aller Gruppen und besprechen die weitere Entwicklung des Projekts.

„Für mich war die Sterngarten-Odyssee das erste Mal, dass ich mit einer Plenumsstruktur, mit einer explizit basisdemokratischen Entscheidungskultur in Berührung gekommen bin“, sagt Lassu. „Selbstverwaltung ist für die meisten Menschen immer erst mal eine Zumutung“, sagt Junge. „Das geht gegen die Bequemlichkeit – aber Selbstverwaltung, Selbstbestimmung ist nun mal in zumindest den allermeisten Fällen ein Garant dafür, dass am Ende etwas Soziales rauskommt.“

Seit zwei Jahren gibt es die Sterngarten-Odyssee, mittlerweile sind es statt der anfänglichen 30 über 100 Mitglieder. Diese Entwicklung passt zur solidarischen Landwirtschaft insgesamt: Im Vergleich mit anderen Ländern ging diese in Deutschland zunächst relativ langsam voran. Noch vor acht Jahren gab es in ganz Deutschland weniger als zehn Höfe, die nach diesem Prinzip wirtschafteten. Mittlerweile sind es bereits über 70 Höfe, die ihrer Erzeugnisse vollständig oder teilweise nach dem Modell der solidarischen Landwirtschaft abgeben.

Auch der Begriff ist noch jung: Er entstand erst 2011 mit der Gründung des gleichnamigen Netzwerks. Früher benutzte man meist den US-amerikanischen Begriff „Community Supported Agriculture“.

„Die Zahl der Höfe, die dieses Prinzip anwenden, wächst rasant“, sagt Katharina Kraiß vom Netzwerk, im vergangenen Jahr hätten doppelt so viele Höfe auf solidarische Landwirtschaft umgestellt wie im Jahr zuvor. Alle diese Höfe arbeiten ökologisch oder biologisch-dynamisch, aber nicht alle haben auch ein entsprechendes Zertifikat. Das ist auch keine Voraussetzung für die Aufnahme in das Netzwerk. „Wir gehen davon aus, dass die Produktionsbedingungen durch die enge Beziehung zwischen Verbrauchern und Erzeugern genügend transparent sind, das ist uns wichtiger als ein Siegel“, sagt Kraiß. Das Netzwerk unterstützt die Höfe durch Beratung und Information, vermittelt erfahrene Höfe an Neueinsteiger und organisiert den Erfahrungsaustausch zwischen den Initiativen.

Viele der Projekte konzentrieren sich auf einen Hof – in die Versorgungsgemeinschaft können dann nur so viele Mitglieder aufgenommen werden, wie der Hof auch versorgen kann. In der Sterngarten-Odyssee wird ein anderes Modell ausprobiert: „Für die einzelnen Höfe ist es oft schwierig, den Bedarf nach Produktvielfalt komplett allein abdecken zu können“, sagt Junge. Deswegen haben sich hier mehrere Betriebe zusammengetan: Von der Demeter-Bäuerin Maria Bienert, die einen Hof in der Nähe von Leipzig betreibt, kommt der Großteil des Gemüses. Kohl, Zwiebeln und Knoblauch liefert ein Hof im Saalekreis. Saft und Obst kommen aus einem weiteren Projekt von Simon Junge: Die Apfelsternwarte, bei der alte Obstwiesen für den biologischen Anbau wiederentdeckt werden.

Seit letztem Jahr gehört außerdem ein Hof ganz in der Nähe mit zum Programm: Der Florahof am nordwestlichen Rand von Potsdam. Arbeitseinsätze hier sind mit S-Bahn und Fahrrad zu erreichen, was der bequeme Verbraucher sehr zu schätzen weiß, wie Junge lachend erzählt.

Die Bauern haben das ganze Jahr über gleichmäßige Einnahmen, mit denen sie fest rechnen können – und nicht nur zur Erntezeit

Pastinaken aus Potsdam

Auf dem Florahof stehen lange Reihen Porree in der Wintersonne, daneben wächst der Feldsalat und Postelein. Ricki und Erna, die beiden Hofpferde, blinzeln etwas verschlafen, während Markus Schüler Pastinaken in eine Kiste stapelt. „Die kriegen die Berliner in der nächsten Woche“, sagt der 36-Jährige, der den Hof gemeinsam mit seinen Eltern, Edelgard und Hartmut, betreibt.

Auf rund 10 Hektar Fläche baut die Familie Gemüse an, seit 1995 ist der Hof ein Demeter-Betrieb. Zu DDR-Zeiten diente der Gemüseanbau als Nebenerwerb, nach der Wende stellte die Familie dann auf Vollbetrieb um – und hatte erst mal ein Problem: „Bio gab’s in dem Sinne ja vorher nicht, aber gespritzt haben wir nie“, sagt Schüler. „Nun waren aber die Kunden plötzlich viel anspruchsvoller, wenn da mal ein Riss im Kohl war, haben wir den nicht mehr verkauft gekriegt.“ Die Familie stand vor der Entscheidung: entweder mit dem Einsatz von Pflanzenschutzmitteln beginnen oder ein zertifizierter Biohof werden. „Bei uns war das immer so, dass wir die Ernte direkt vom Feld weg essen konnten – mit dem Spritzen anzufangen, hätte einfach nicht zu uns gepasst“, erklärt Schüler, warum man sich gegen den konventionellen Anbau entschied.

Dreimal die Woche verkaufen die Schülers ihr Gemüse auf Ökomärkten in Berlin. Das läuft gut, ist aber auch sehr zeitaufwendig. „Bei der Sterngarten-Odyssee ist ein großer Vorteil für uns, dass wir nicht ausliefern müssen, sondern das Gemüse selbst abgeholt wird“, sagt Schüler. Auch mit den Arbeitseinsätzen habe man gute Erfahrungen gemacht. Zur Möhrenernte waren fast 30 Helfer auf dem Hof. „Der Simon kennt sich ja selbst mit Landwirtschaft aus, das ist sehr gut für uns, weil er sich dadurch auch selbst um die Arbeit der Leute kümmern kann und wir da nicht die ganze Zeit aufpassen müssen“, sagt Schüler. Gern wolle man die Zusammenarbeit noch weiter ausbauen – „so, wie es eben für alle gut passt“.

Wenn Schüler, Lassu oder Junge über die Sterngarten-Odyssee sprechen, wird deutlich, dass die Zusammenarbeit von großem gegenseitigen Vertrauen geprägt ist – und dass man sich gegenseitig ernst nimmt. Es geht um mehr als nur um Gemüse.

■ Weitere Informationen: www.sterngartenodyssee.de

■ Übersicht der Höfe und Initiativen unter: www.solidarische-landwirtschaft.org

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