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Archiv-Artikel

Der Torso als Widerstand

SKULPTUR Das Gerhard-Marcks-Haus zeigt, wie gesellschaftliche Voraussetzungen für unterschiedliche Ausformulierungen gleicher plastischer Fragestellungen sorgen

Wer der Nackten auf die Pobacken schaut, sieht keine Pobacken, sondern Försters in den Raum drängendes Spiel mit Volumen, ein Hügelei voll Spannkraft und Energie

VON JENS FISCHER

Als „Höhepunkt der Bildhauerei der DDR“ ist sie im kleinen Ausstellungsführer beschrieben. Arie Hartog, Direktor des Gerhard-Marcks-Hauses, pumpt noch mehr Bedeutung in die zentrale Skulptur der von ihm kuratierten Schau: Wieland Försters „Große Neeberger Figur“ sei „ein Hauptwerk der deutschen Bildhauerei“ – oder gar „der europäischen Kunst“, wie es in der Pressemitteilung des Museums steht. Das alles soll zum 85. Geburtstag des DDR-Künstlers mit der Ein-Bild-Ausstellung „Figur tut weh“ bewiesen werden. Hartog arrangiert um das 1971 bis 1974 entstandene Meisterwerk andere Positionen der non-konformen ost- und abenteuernden westdeutschen Bildhauerei aus den 60er- und 70er-Jahren, die allesamt künstlerische Aspekte aufweisen, die Förster in seiner Plastik vereint.

Im Vorraum begegnen einem Försters Vorarbeiten zur großen Hemdauszieherin, nämlich kleine „Hemdausziehende“. Auch „Passion“ ist zu sehen, mit der sich der Künstler ins Abseits der offiziellen DDR-Kunst manövrierte. Gegen den rücksichtslosen Optimismus all der Arbeit-und-Bauern-Helden des Sozialistischen Realismus setzte er eine schmerzhaft verdrehte und verstümmelte Leidensfigur. Förster habe als Kind die Zerstörung Dresdens im Feuersturm und nach dem Zweiten Weltkrieg Folter im Bautzener „Spezialgefängnis“ des sowjetischen Geheimdienstes erlebt, erklärt Hartog. „Er wusste und zeigte, dass Gewalt nicht nur von Faschisten und im Kapitalismus ausgeübt wird.“ Deswegen habe die Stasi kritisiert, Förster stelle die ganze „Misere des Menschen“ dar.

Davon ist auch die Neeberger Figur durchdrungen, zu der Förster durch eine Begegnung/Vision am Strand des Usedomer Dörfchens Neeberg inspiriert wurde. Dem Werk ist sich nun durch einen Sichtschacht zu nähern, jeder Besucher kann dabei ähnliche Erfahrungen machen wie Hartog während der Erstbegegnung mit einer der fünf existierenden Bronzefrauen. „1985 in Ostberlin entdeckte ich sie zwischen ganz vielen echt mauen, braven Staatskunstwerken vor der Nationalgalerie und dachte: Wow, was für eine Wucht, diese Power!“ Genau das vermittelt sich nun auch in Bremen: Je weiter man auf die Figur zuschreitet, desto deutlicher wird ihr Wunsch: Ich will hier raus. Die Zehen noch in den Boden verkrallt, die Füße aber absprungbereit: Mit ihren 3,22 Metern misst die Skulptur die Vertikale bis zur Decke aus, ein zum Hinausschießen gespannter Körper. Aber keine kreatürliche Behauptung menschlicher Physis.

Förster verweigert Realismus-Dogmen und zieht seine Neebergerin unnatürlich in die Länge – wie ein Gummibärchen. Die Unterschenkel sind überproportional gestreckt und weiterentwickelt zu kraftstrotzenden, unterproportional gedrungenen Oberschenkeln. Hüftknochen stechen wie Waffenmündungen hervor. Wer der Nackten auf die Pobacken schaut, sieht keine Pobacken, sondern Försters in den Raum drängendes Spiel mit Volumen, ein Hügelei voll Spannkraft und Energie. Und der Oberkörper? „Durchaus erotisch“, empfindet Hartog die halb entblößten Brustkügelchen. Unter den zum Absprung gereckten Armen sind Gesicht und Schultern hinter einem gewellten Hemdchen verborgen: umwölkt. Die Neebergerin ist Objekt und doch Figur, konkret und entrückt, präsent und abwesend. Irritierend mehrdeutig wie sinnlich unmittelbar. Diese Statue würde als Schmuck einer FKK-Badestätte genauso funktionieren wie als Mahnmal vor einer Gedenkstätte. Es sei eine „Figur der Krise“, sagt Hartog. Die Entscheidung in Richtung Abstraktion, rein figürliches Motiv oder erzählerischer Klarheit werde nicht getroffen, sondern alle Möglichkeiten auf die Spitze getrieben, was die Spannung ausmache. Dieses Werk sei somit Höhe- und Endpunkt einer Entwicklungsphase Försters, nichts Vergleichbares folgte mehr.

Anonymisierung durch verhüllte oder nicht ausgearbeitete Gesichter kennzeichnet auch andere Werke der Ausstellung. Was Förster verdeckt, lässt Wolfgang Kuhle gleich weg, kappt Kopf und Arme, um gar nicht die Möglichkeit zu haben, der SED-Ideologie mit heroischer Mimik und gestischer Zukunftsumarmung zu entsprechen: ein Torso als Widerstand. Konkret werden will hingegen Siegfried Neuenhausen: „Gefesselter auf Stuhl“ ist eine beklemmend lebensecht inszenierte Situation, die kaum eine andere Assoziation zulässt als: Folteropfer. Ein reduzierend konzentrierendes und doch sehr körperliches Statement liefert Joannis Avramidis, der die menschliche Figur als Kugelstapel aus einer Säule hervortreten lässt, die er mit horizontalen Einschnürungen modelliert. So wie Förster die Taille seiner Neebergerin.

Wider das Klischee von altmodischen Ost- und modernen Westkünstlern zeigt das Marcks-Haus, wie unterschiedliche gesellschaftliche Voraussetzungen für unterschiedliche Ausformulierungen der gleichen plastischen Fragestellungen sorgen. Eine Einordnung der Förster’schen Kunst in seine Zeit ist aufgrund der sehr kleinen Ausstellung nicht möglich. Die sich selbst beschränkt, weil Hartog reichlich Beispiele Waldemar Grzimeks aus dem Depot geholt hat – und Werke der in Bremen allzu bekannten Altmeister Bernd Altenstein und Waldemar Otto helfen der Schau nicht weiter. Sehr wohl aber die Zeichnungen Försters: Zu verfolgen ist die Suche nach dem Wesentlichen – Aktskizzen werden zu Körperlandschaften, werden formal zergliedert.

■ bis 12. April 2015, Gerhard-Marcks-Haus