: Hamburger Humor braucht Geduld
Musiktheater nach dem Ohnsorg-Prinzip, gestern und heute: Für ihrer Premiere an der Staatsoper haben Nigel Lowery und Amir Hosseinpour mit René Jacobs die Oper „Der geduldige Sokrates“ von Georg Philipp Telemann neu inszeniert
VON NIKLAUS HABLÜTZEL
Es ist nicht wahr, dass Hamburger überhaupt keinen Humor haben. Man muss nur ein wenig Geduld haben, um dahinterzukommen, worüber sie lachen können. Niemals über das Geld, aber über die kleinen Dinge des Lebens schon, über all das, was sich um den Fischmarkt herum und in der Küche jeden Tag ereignen kann. Das Ohnsorg-Theater ist ein gutes Beispiel dafür. Man muss aber außerdem wissen, dass die Hamburger eigentlich gar nicht so bieder sind, wie es dort zugeht. Sie fahren zur See, kennen die ganze Welt und hatten daher seit je ein Bedürfnis, zu Hause vorzuzeigen, was sie da draußen, hinter den Harburger Bergen, gesehen hatten. Aber so, dass es die Leute im Kontor und im Hafen auch verstehen konnten – und dafür Eintritt bezahlten. So kommt es, dass ausgerechnet in der kunstfernen Hansestadt Hamburg das erste kommerzielle Theater entstand, das Opern in deutscher Sprache aufführte.
1678 ist es gegründet worden, stand neben dem Gänsemarkt (wo noch heute die Hamburger Oper steht), 2000 Zuschauer passten in den Saal. Der Senat der Kaufleute hatte es gewollt, die protestantischen Paffen waren immer dagegen gewesen, um 1720 herum musste mal wieder ein neuer Generalmusikdirektor bestellt werden, für die Oper natürlich, aber auch für die Kirchenmusik. Johann Sebastian Bach bemühte sich um die Stelle. Aber die Kaufleute verstanden Georg Philipp Telemann viel besser, und berühmt genug war der auch. Er hatte schon in Leipzig Opern aufgeführt – und das Orchester gegründet, das später Bach übernahm. In Frankfurt hatte er fleißig Kirchenkantaten geschrieben: Die Hamburger wollten beides haben.
Aber nicht nur die Hamburger verstanden Telemann, er verstand auch sie. Zum Einstand schrieb er ihnen eine ungefähr vierstündige Oper nach einem uralten italienischen Libretto, das er dafür vom Haustexter der Hamburger Oper bearbeiten und (wenigstens zum Teil) ins Deutsche übersetzen ließ. Sie heißt „Der geduldige Sokrates“, und René Jacobs hat wahrscheinlich recht, wenn er meint, diese Partitur sei eine der interessantesten des Meisters. Er hat wirklich alles hineingepackt, was er konnte, große Arien, Strophenlieder, Duette, sogar einen Trauerchor und ein Solokonzert für Blockflöte. Und bei aller Kunstfertigkeit vergaß er niemals, worüber Hamburger am liebsten lachen. Stundenlang konnten sie sich auf die Schenkel klopfen, der neue Musikdirektor hatte ihnen eine richtige große Oper aus der großen, weiten Welt nach Hause gebracht, in der es genau so zugeht wie auf dem Fischmarkt und in Mutters Küche.
Man muss diese Vorgeschichte so lang und breit erzählen, um die Leistung zu ermessen, die hinter der neuen Inszenierung von Nigel Lowery und Amir Hosseinpour unter der musikalischen Leitung von René Jacobs steckt. Es ist Schwerstarbeit. Den leichtesten Teil hatten vielleicht die Akademie für alte Musik und die Sänger und Sängerinnen. Sie spielen alles so entspannt und makellos, wie Telemann es zu Lebzeiten wohl nie zu hören bekam. Aber gerade die Perfektion enthüllt das flinke Handwerk, das so oft die Inspiration ersetzen muss, die bei Telemann fehlt. Lowery und Hosseinpour versuchen wenigstens den Plot zu retten, indem sie ihn so deftig wie möglich in das Dekor und Gehabe einer Fernsehvorabendserie übersetzen. Das Zeug dazu hat er allemal: Weil in Athen angeblich alle Männer verpflichtet waren, zwei Frauen zu heiraten, hat Sokrates nicht nur seine Xanthippe am Hals, sondern auch noch eine Amitta. Außerdem gibt es ein Rudel Schüler, einen Bauerntölpel, zwei junge Frauen, zwei junge Männer, einen Vater und einen Dichter. Was es nicht gibt, ist eine Handlung, aber das Personal lässt sich endlos zu immer neuem Ehe- und Liebestumult kombinieren. Weil alles doppelt ist, hat Lowery ein spiegelbildlich verdoppeltes Loft aus Bücherregalen, Ausblick in den Philosophengarten und Küchenzeile für seine Gattinnen gebaut, ein grandioser Einfall von skurriler, bildhafter Komik, den Hosseinpour auf subtile Weise fortsetzt, indem er die Personen mit den Händen gestikulierend, in einer Art Taubstummensprache verdoppeln lässt, was sie gerade an musikalischem Material zu singen haben.
Derart doppelt genäht und gehäkelt schleppt sich die Sache dann doch leidlich abwechslungsreich vor sich hin. Man muss eben Geduld haben. Es gibt schöne und lustige Stellen, mal in der Musik, mal im Schauspiel, sogar zwei Hundchen machen mit. Aber eine Komödie entsteht dennoch nicht. So virtuos und ironisch die Regie dieses Stücks Vergangenheit in die Moderne der Telenovela übersetzt, im Kern bleibt es beim Hamburger Ohnsorg-Theater. Dort scheppert es halt in der Küche, und die Richtigen kriegen sich dann doch. Die Hamburger hätten Bach haben können, aber sie haben Telemann genommen.
Staatsoper Unter den Linden, nächste Aufführungen: 1., 3., 7., 9. Oktober