: Kopf vergessen
Der HSV verwöhnt seine Fans zum 120. Vereinsjubiläum mit schönem Offensivspiel – aber schenkt zwei Punkte her
HAMBURG taz ■ „Wir haben nicht verloren!“, sagte ein Fan im HSV-Trikot nach dem Spiel, fast trotzig. Sein Kumpel im Wolfsburger Grün-Weiß hielt dagegen: „Oh doch, das habt ihr, und zwar so was von.“ HSV-Trainer Huub Stevens neigte eher zu letzterer Interpretation des 2:2-Unentschiedens: „Ich bin überhaupt nicht zufrieden“, gab er angesäuert zu Protokoll. „Wie wir geendet sind, hatten wir auch angefangen: katastrophal.“ Auch eine Erklärung hatte der knurrige Holländer parat: „Einige waren wohl mit dem Kopf noch in Dortmund, wo sie super gespielt haben, wo sie so gelobt worden sind. Sie kommen damit offenbar nicht zurecht. Katastrophal.“ Stevens’ Miene verriet, dass er solche Spiele wie in Dortmund am liebsten verbieten würde, wenn er damit den Leichtsinn für immer ausrotten könnte.
Stevens ist ein Mann mit Prinzipien. Und das oberste Prinzip lautet: „safety first“. Deswegen hatte niemand erwartet, dass Nürnbergs Trainer Hans Meyer auf offene Ohren stoßen würde, als er seinem Hamburger Kollegen vergangene Woche ins Stammbuch schrieb: „Du müsstest allmählich anfangen, attraktiver zu spielen.“ Umso größer war die Überraschung, als ein offensiv eingestellter HSV unter der Woche Borussia Dortmund mit 3:0 überrollte.
Auch gegen Wolfsburg spielte der HSV über weite Strecken beherzten Angriffsfußball – eine Tatsache die in Stevens’ Analyse keinen Eingang gefunden hatte, vielleicht, weil sie auf Kosten der Sicherheit gegangen war.
Es sah aus, als wollten die Spieler unbedingt ihren Teil dazu beitragen, dass der auf den Tag genau am Samstag begangene 120. Geburtstag des Hamburger Sportvereins ein rauschendes Fest würde. Allen voran Rafael van der Vaart: Vor ein paar Wochen noch wollte er partout nach Valencia wechseln und trickste mit allen Mitteln gegen seinen Arbeitgeber. Manche meinten schon, man müsse ihn gehen lassen, weil er sich für den HSV nicht mehr würde motivieren können. Doch van der Vaart bringt Woche für Woche Topleistungen, auch wenn er viel zu häufig alles selbst machen muss, von der Balleroberung bis zum Torschuss. Er hat in allen sechs Bundesligaspielen seit dem Machtwort des HSV getroffen und liegt auf Rang zwei der Torjägerliste. Gegen Wolfsburg war die zählbare Ausbeute seines erheblichen Aufwands eine Ecke, die Innenverteidiger Bastian Reinhardt zum 1:0 einköpfte (17.) und ein 45-Meter-Freistoß, den Simon Jentzsch, irritiert durch den agilen Nigel de Jong, zum 2:1 passieren ließ (70.).
Dass es doch keine Hamburger Party wurde, hatte etwas damit zu tun, dass die Wolfsburger Mannschaft nach zweimaligem Rückstand nicht aufsteckte. Auch wenn man bisweilen noch den Eindruck eines „VfL der zwei Geschwindigkeiten“ hat – hier die vor allem gedanklich blitzschnellen brasilianischen Offensivkräfte, dort die biederen Handwerker aus der Ära vor Felix Magath –, wächst das Team zusammen, zuletzt beim 1:1 gegen Werder Bremen zu beobachten. Als Bindeglied könnte man Ashkan Dejagah betrachten, der mit Josué, Marcelinho und Grafite schon gut harmoniert. Dem 21 Jahre jungen Berliner Jungen blieb es vorbehalten, den Hamburgern mit einem scharfen Schuss zum 2:2-Ausgleich die Party zu versauen (88.). Den Grundstein dafür aber hatte der Hamburger Verteidiger Joris Mathijsen gelegt, der nach verlorenem Luftkampf Marcelinho im Strafraum umsenste und dafür nur mit Glück nicht die Rote Karte sah. Dass der Wolfsburger Neuzugang Grafite sich selbstbewusst den Ball schnappte und den fälligen Elfmeter zum 1:1 ins Tor hämmerte (57.), zeigt, wie weit Magath schon mit seiner Integrationspolitik gekommen ist.
Der Wolfsburger Trainer ist in Hamburg ein gern gesehener Gast. Sollten ihn selbst noch Sentimentalitäten mit seinem langjährigen Verein umtreiben, hat er das am Samstag gut kaschiert. „Ich komme gerne nach Hamburg – ist eine schöne Stadt, ein toller Verein, ein tolles Stadion“, sagte er nach dem Spiel mit einem Lächeln, das für einen 120. Geburtstag schon eine Spur zu süffisant war. JAN KAHLCKE