: Die Hälfte der Macht
GLEICHHEIT Die ersten freien Wahlen in Tunesien seit dem Arabischen Frühling – welche Chancen haben Frauen?
■ Der Termin: Am 23. Oktober wählt Tunesien seine Verfassunggebende Versammlung: Von den insgesamt 217 Parlamentssitzen werden 199 in 27 Wahlkreisen besetzt, 18 Sitze stehen den im Ausland lebenden TunesierInnen zu.
■ Wer kandidiert: Mehr als 50 von 110 zugelassenen Parteien, einige Parteienbündnisse sowie viele Listen mit „Unabhängigen“, unter anderem Islamisten und Mitglieder der früheren Staatspartei RCD.
■ Die Wahl: Gewählt wird nach einem Verhältniswahlrecht, das den Einzug verschiedener Parteien ermöglichen soll. Von den mehr als 5.000 weiblichen Kandidaten sind nur 250 Spitzenkandidatinnen, daher besetzen nur 5 Prozent den aussichtsreichen Listenplatz.
AUS LA GOULETTE RENATE FISSELER-SKANDRANI
Die Plakate an der breiten Umfriedungsmauer der Moschee in La Goulette, einem Vorort von Tunis, folgen den neuen Regeln der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Für jede der über 70 Wahllisten im hiesigen Wahlkreis Tunis 2 ist ein Plakatplatz vorgesehen, nummerierte Rechtecke, schwarz umrandet. Ein Mann, eine Frau, ein Mann, eine Frau – auf jedem Plakat wechseln sich Fotos von Männern und Frauen in gleicher Zahl ab, so wie es Tunesiens neues Wahlrecht vorschreibt.
Die letzten Tage bis zur Verfassunggebenden Versammlung am 23. Oktober laufen. Es ist die erste demokratische Wahl nach der tunesischen Revolution im Januar. Die 217 Männer und Frauen, die dann im Parlament sitzen werden, sollen Grundrechte entwerfen und bestimmen, wie die neue Demokratie organisiert ist. Die beiden Wahlkreise der Hauptstadt sind wichtig, je acht Abgeordnete schicken sie ins Parlament. Hier haben die Parteien einen großen Teil ihrer wichtigsten Leute in Stellung gebracht. Es sind gleich viele Männer und Frauen auf den Plakaten abgebildet, aber oben, von den aussichtsreichen Spitzenplätzen blicken überwiegend Männer.
Nicht so bei Ennahdha. Die gemäßigt islamistische Partei hat im Wahlkreis Tunis 2 ihre landesweit einzige Spitzenkandidatin postiert. An diesem Tag ist sie mit ihrem Team unterwegs: 30 bis 40 Menschen, Frauen und Männer, verteilen Flugblätter, Kinder schwenken Fähnchen. Alle tragen weiße T-Shirts mit Ennahdha-Logo und weiße Kappen, die die verschleierten Frauen über ihre Kopftücher gestülpt haben. Gefragt, was sie von den Wahlen erwarte, antwortet eine Frau: „Demokratie, Respekt – auch, dass man die Wahl unserer Kleidung respektiert“.
Eine Ärztin, verheiratet, zwei Kinder, kandidiert auf der Ennahdha-Liste. Wie steht ihre Partei zu den Rechten der Frauen. Stimmen Gerüchte, dass die Polygamie wieder eingeführt werden soll? „Niemals“. Und die Ungleichheit von Mann und Frau im Erbrecht? „Nein, so steht es im Koran, das können wir nicht verändern.“
Auch die jungen KandidatInnen des Demokratischen Forums für Arbeit und Freiheit (FDTL) sind seit dem frühen Morgen in La Goulette unterwegs. Darunter Omezzine Khelifa, die seit Wochen an der Basis aktiv ist. Um 11 Uhr hat die Partei ins Hotel Lido eingeladen. Der Kontakt mit den WählerInnen wird in der heißen Phase des Wahlkampfs wichtig. Für die Partei werben, aber auch die Zweifelnden, besonders in der jungen Generation, ansprechen. Viele junge Leute, die die gefälschten Wahlen aus den Zeiten der Diktatur vor Augen haben, haben sich nicht in die Wählerlisten eingetragen. „Sie glauben nicht, dass es diesmal anders sein wird als unter Ben Ali. Sie müssen erst selbst erfahren, dass das gewählte Parlament soziale und politische Veränderungen auf den Weg bringen kann“, sagt Omezzine Khelifa.
Der revolutionäre Umbruch in Tunesien hat das Leben der 30 Jahre alten Khelifa radikal verändert. Nach dem Studium in Frankreich arbeitete sie als Ingenieurin in der Telekommunikation in Paris. Sicherer Arbeitsplatz, guter Verdienst. Im Frühsommer kündigt sie ihren Arbeitsplatz, jetzt ist sie Kandidatin für die Constituante auf der Wahlliste Tunis 2 vom FDTL. „Dem Forum habe ich mich angeschlossen, weil dies eine demokratische Partei ist, die ihre politische Vertrauenswürdigkeit in den Zeiten der Diktatur und durch ihr Handeln nach dem 14. Januar bewiesen hat.“ Damals hatte die Partei einen Ministerposten in der ersten Übergangsregierung mit Vertretern der alten Staatsmacht abgelehnt. Die Trennung von Politik und Religion stehen ebenso im Programm wie die Gleichheit von Mann und Frau.
Für die engagierten Frauen im neuen Tunesien macht das Prinzip der Parität die patriarchalische Hürde etwas niedriger. Saßen noch vor wenigen Monaten bei Veranstaltungen fast nur Männer auf den Podien, wird heute auf Parität geachtet. Das macht es für aktive Frauen leichter, einen Platz in der sich konstituierenden politischen Landschaft einzunehmen.
Dass in der Verfassunggebenden Versammlung dennoch nur 5 bis 10 Prozent Frauen sitzen werden – so sagen es Prognosen –, zeigt, dass die Parität eben nur ein Türöffner zu mehr Gleichberechtigung ist.
■ Die Autorin lebt seit über 20 Jahren in Tunis und arbeitet dort für das Goethe-Institut