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Archiv-Artikel

Bessere Hilfe in akuten Notlagen

Heute vor einem Jahr wurde Kevin tot aufgefunden: Die Sensibilität in Amt und Bevölkerung ist gestiegen, die Fallzahl ebenso – oft aber auch die Arbeitsbelastung im Sozialdienst

von Jan Zier

Ein Jahr nach dem Auffinden der Leiche des Kindes Kevin ist mit der gestiegenen Sensibilität auch die Zahl der ambulant oder stationär betreuten Kinder und Jugendlichen deutlich angestiegen. Zugleich ist die Arbeitsbelastung im Sozialdienst trotz 22 neuer Stellen nach wie vor „sehr groß“, wie Sozialsenatorin Ingelore Rosenkötter gestern sagte.

Die Zahl jener Kinder, die seit Dezember 2006 in Heimen oder in Vollzeitpflege untergebracht worden sind, ist bis August von 1.067 auf 1.165 gestiegen. Zugleich ist die Zahl derer, die von der Familienhilfe betreut werden, im selben Zeitraum von 446 auf 676 angestiegen. Für die einzelnen SozialarbeiterInnen, so der neue Chef des Amtes für Soziale Dienste (AfSD), Peter Marquard, habe die Arbeitsbelastung im vergangenen Jahr zum Teil sogar noch zugenommen. „Eine Entlastung spüren wir nicht“, sagt Kerstin Reiners, Fallmanagerin in Bremen-Mitte. Das liegt auch daran, dass zwar fünf vakante Stellen im Sozialdienst neu besetzt, längere Krankheitsausfälle jedoch nicht ersetzt werden.

Zwar ist die Zahl der Amtsvormundschaften, die einzelne MitarbeiterInnen zu betreuen haben, im vergangenen Jahr von 240 auf 99 gesunken. Die Zahl der von den SozialarbeiterInnen zu bearbeitenden Fälle ist im vergangenen Jahr jedoch leicht gestiegen. Ebenso die Zahl der Meldungen beim neuen Kinder- und Jugendschutztelefon: Mehr als 30 Anrufe gehen monatlich ein, in der Hälfte aller Fälle seien „Eingriffe“ nötig, so Rosenkötter.

Dabei erwartet Reiners von der Einführung der elektronischen Fallakte „frühestens in zwei Jahren“ eine echte Entlastung. Ein solches System sei zwar „gut“ und vor allem „transparent“, die praktische Umstellung jedoch mit erheblichen Mehrbelastungen verbunden.

Insgesamt verbessert hat sich in Folge von Kevins Tod nach Angaben von Fachleuten vor allem die Hilfe in akuten Notlagen. „Wenn ein solcher Fall bekannt wird“, so der Vorsitzende des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Stefan Trapp, „dann passiert auch etwas.“ Drohten indes keine schweren Verletzungen, „dann fehlen offensichtlich die Ressourcen“. Auch der Staatsrat im Sozialressort, Joachim Schuster (SPD), sprach gestern auf einer Fachtagung in der Bürgerschaft von der „Konzentration auf die Gefahrenabwehr“.

Rosenkötter benannte neben der Einführung eines Gesetzes für verbindliche Vorsorgeuntersuchungen vor allem Fortbildungen und Überwachung der SozialarbeiterInnen als Neuerung und Konsequenz aus Kevins Tod. Zudem müssten mit Ersatzdrogen behandelte Eltern nun ihre Fähigkeit zur Betreuung ihrer Kinder nachweisen und erhielten Hausbesuche. Doch auch hier gibt es Kritik: „Mir ist nicht klar, wie das funktionieren soll“, sagt etwa die Familienrichterin Sabine Heinke.

Trotz aller Betreuungsangebote, Hilfen und Zwangsmaßnahmen sind sich die ExpertInnen sicher, dass es keine Sicherheit gibt, um den gewaltsamen Tod eines Kindes wie Kevin zu verhindern. „Man kann nie hundertprozentig ausschließen, dass irgendetwas passiert“, sagt Rosenkötter – mit Verweis auf einen Fall in Cuxhaven: Einen Tag nach einem Besuch des Jugendamtes bei einem jüngeren, schon länger betreuten Pärchen wurde der elf Monate alte Sohn vergangene Woche getötet. Hinweise auf eine Gefährdung habe es im Vorfeld jedoch nicht gegeben, hieß es beim zuständigen Amt.

In Bremen muss sich Kevins Ziehvater vom 24. Oktober an vor dem Bremer Landgericht wegen Totschlags verantworten. In der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft war dem 42-Jährigen noch Mord vorgeworfen worden.