: Zack und rein
Elitestudent schubst Hauptschüler. Die Bildungspaten der Zeppelin-Uni in Friedrichshafen begleiten Verlierer unseres Schulsystems in den Beruf. Der kleine Schubs unter dem Motto „Rock your Life“ findet bundesweit Nachahmer
von Anna Hunger
Elif Eköz und Johanna Rahn sind keine Freundinnen, dazu ist ihr Verhältnis zu professionell, aber sie mögen sich so sehr, dass sie zusammen kichern und lachen können und ab und zu im Keller der Zeppelin-Uni eine Runde Tischkicker spielen. Auch an diesem Tag. 8 zu 7 für Johanna. „Zack und rein“, sagt sie, und schmettert den Ball an Elifs schwarzem Männchen vorbei zum 9 zu 7. Elif lacht, beste Stimmung.
Elif Eköz ist vierzehn. Sie liebt türkischen Rap, mag gerne Autos – und besucht die neunte Klasse der Ludwig-Dürr-Werkrealschule in Friedrichshafen. Noch ein paar Monate, dann ist Schluss mit Schule. Was danach passiert, weiß sie noch nicht so genau. Was sie sich wünscht, schon: Berufskolleg Fachhochschulreife, einen Beruf als Industriekauffrau.
Elif ist das, was sich Lehrer unter einer glänzenden Schülerin vorstellen. Sie hat in Mathe eine Eins, ist Klassensprecherin, möchte demnächst Schulsprecherin werden. Sie ist hübsch und klug und so selbstbewusst, dass sie sich zwischen all den Studenten auf dieser Exzellenz-Uni mit Seeblick nicht ein bisschen unwohl fühlt. „Mir gefällt's hier“, sagt sie. Weil das Gebäude so schön sei, so hell und freundlich und ganz anders als ihre Schule.
An der Zeppelin-Uni sitzt und lernt das gesellschaftliche Gegenteil von Elif. Die Elite, die ganz groß rauskommen will, mehrsprachig, schnieke, mit Apple-Laptops unterm Arm. Selbst im Klo hängen Plakate, die Praktika anpreisen. Hier studiert Johanna Rahn. Für sie ist das Lernen und ihr Studium der Kern ihres Lebens. Sie ist fünfundzwanzig, sympathisch und der studentische Coach der Werkrealschülerin Elif.
Die Schülerin und die Studentin haben sich bei einem „Matching Day“ getroffen, einem Kennenlerntag der Initiative „Rock your Life“, einem Bildungspatenprojekt, das Hauptschüler beim Übergang von der Schule in den Beruf begleitet und durch Kontakte zu Firmen und Unternehmen Ausbildungs- und Praktikumsplätze vermitteln will. Die Matching Days sind Teil des Programms. Dort treffen sich ein Haufen Studenten und ein Haufen Schüler, um die gegenseitige Sympathie zu testen und herauszufinden, welcher Schüler zu welchem Studenten passt.
Den Anstoß gab ein Besuch von Peer Steinbrück
Johanna Rahn ist eine von rund 400 „Rock your Life“-Coaches bundesweit. Sie fand Elif interessant, sagt sie. Elif sei sehr offen und kommunikativ gewesen, an mehr interessiert als an Klamotten und Schminke und daran, wer wem wann eine SMS schreibt. „Das wäre das Schlimmste für mich“, sagt Johanna. Elif fand Johanna nett, ihr erster Gedanke: „Das könnte tatsächlich was werden.“ Seitdem treffen sie sich zweimal im Monat. Sie schreiben Bewerbungen zusammen, sprechen über die Schule, das Studium, die Zukunft, Wünsche und Träume.
Die Idee zu „Rock your Life“ kommt von einer Handvoll Studenten der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen und ist vor etwa drei Jahren entstanden. Damals war Exfinanzminister Peer Steinbrück zu einem Vortragsabend an der exklusiven Uni am Rande von Friedrichshafen zu Gast. Er sprach vor allem über die Finanzkrise. Später auch darüber, was im deutschen Bildungssystem falsch läuft. „Er äußerte sich sehr resigniert über die fehlende staatliche Unterstützung für Hauptschulen“, sagt Stefan Schabernak, eines der Gründungsmitglieder von „Rock your Life“. „Das war der Anstoß für unser Netzwerk.“ Zwölf Studenten haben sich damals zu einer Gruppe zusammengeschlossen, um gemeinsam gegen diese „No-Future-Stimmung“ vorzugehen.
„Rock your Life“ hat inzwischen bundesweit Filialen
Sie lasen Studien, Berichte, Zeitungsartikel, versuchten, die damals von der Berliner Rütli-Schule geprägten Hauptschulklischees zu hinterfragen. Ein paar Wochen später saßen die Studenten und Studentinnen in einem Zimmer unterm Dach der Friedrichshafener Uni, die Wände waren mit Mind-Maps und Projektskizzen gepflastert, und gründeten „Rock your Life“. Ein „Impulsgeber und Wissensvermittler in der deutschen Bildungslandschaft“ wollen sie sein, schreiben sie auf ihrer Homepage. „Wir glauben an das Potenzial jedes einzelnen Menschen.“ Und sie wollen Brücken bauen – zwischen Schülern, Studenten und Unternehmen.
Die erste Station für „Rock your Life“ war Friedrichshafen, danach zogen sie raus ins Land. Presseberichte und studentische Netzwerke verbreiteten die Idee auch an anderen Unis in Deutschland. Studenten riefen an und wollten in ihrer Stadt ein solches Projekt aufziehen. Wenig später hatten Schabernak und Co. Filialen in Berlin, Konstanz, München, Freiburg und Dresden. Finanziert werden sie durch Spenden und Sponsoren, ihr Unternehmensnetzwerk haben sie vor allem über ein Netzwerk aus Kontakten aufgebaut – über ihre Väter und Mütter, eigene Praktikumsbeziehungen, Anfragen. Zwölf Firmen, die Praktika und Ausbildungsplätze anbieten, haben sie im Moment auf ihrer Liste und sind ständig auf der Suche.
„Rock your Life“ ist eines von Hunderten Patenmodellen in Deutschland, die das leisten, was der Staat und das Bildungssystem nicht leisten können: eine individuelle Betreuung und Begleitung von Schülern. Es gibt Initiativen für Grundschüler, für Kitakinder, für Realschüler, solche, die nur Nachhilfe sponsern, und solche, die individuell fördern wollen. Es gibt private Projekte, die sich durch Sponsoren finanzieren wie „Rock your Life“, und kommunal organisierte, die mit dem Jugendamt, Sozialarbeitern, Lehrern und Unternehmen zusammenarbeiten. Mittlerweile sind es so viele, dass sie sich gegenseitig Konkurrenz machen und dass manche Schulen sie schon ablehnen. Vor allem in Berlin, weiß Stefan Schabernak. „Die werden regelrecht überschwemmt mit Projekten.“ Die Nachfrage sei trotzdem ungebrochen.
In vier Monaten ist auch Stuttgart dabei
Zurzeit verzeichnet die Organisation 17 Standorte, der 18. entsteht gerade in Marburg. Dabei hatten sie sich nur gewünscht, dass es in Friedrichshafen gut läuft, sagt Stefan Schabernak. „Rock your Life“ ist zum sozialen Franchiseunternehmen geworden, das immer weiter wächst. Wer Interesse anmeldet, wird zu einem Seminar eingeladen, gründet einen Verein am jeweiligen Standort, bekommt eine Vereinssatzung, Unterlagen zum Projekt und ein persönliches Coaching zum Umgang mit den zukünftigen Patenkindern: nicht zu streng, nicht zu lax, nicht zu besserwisserisch, dafür aber motivierend. „Dann kann es losgehen“, sagt Stefan Schabernak, der gerade dabei ist, einen „Rock your Life“-Standort in Stuttgart zu etablieren. Er wirbt an den Unis rund um die Stadt um studentische Coaches, stellt das Projekt an Stuttgarter Schulen vor. Vier Monate wird es dauern, dann hat auch die Landeshauptstadt eine Filiale.
„Rock your Life“ arbeitet ohne die Eltern und Lehrer der Paten und ohne hauptamtliches Personal. „Damit die Schüler freier sind, sich auch mal auslassen können, ohne Angst zu haben, dass Eltern und Lehrer etwas davon mitbekommen.“ Das schafft Vertrauen, und das ist der Vorteil und das Credo von „Rock your Life“ – sich kümmern, zuhören, beraten. Die Initiative möchte Augenhöhe erreichen. Es soll eine kumpelhafte Beziehung sein. „Denn eines brauchen die Schüler nicht“, sagt Stefan Schabernak: „Noch einen, der ihnen sagt, was sie zu tun haben.“
Den Nachteil vieler kommunaler Patenprojekte sieht Stefan Schabernak in den Seniorpaten. Senioren, die sich ehrenamtlich um Jugendliche kümmern. Zu weit entfernt seien sie von der Lebenswelt ihrer Patenkinder, sagt er, weil ein 70-Jähriger noch mit Telefonen mit Wählscheibe aufgewachsen sei und mit SMS und Facebook der heutigen technisierten Jugend einfach nichts anfangen könne.
Das stimmt bedingt, sagt Frank Arnold vom „Schönaicher Patenmodell“. Wenn Menschen in einer schwierigen Situation zusammenarbeiten, sei das eben kein Zuckerschlecken, und es könne schon passieren, dass die Chemie zwischen dem Patenkind und seinem Paten nicht stimme. Die Haltung, der Pate übernehme die ganze Arbeit und werde „den Karren schon aus dem Dreck ziehen“, sei falsch.
Das Patenmodell in Schönaich bei Böblingen ist eines der ältesten, wenn nicht das erste Patenprojekt in Deutschland, dessen Paten Schüler durch das letzte Schuljahr und das erste Ausbildungsjahr begleiten. Das Projekt entstand im Jahr 2000 als kleine, kommunale Initiative einer Handvoll Ehrenamtlicher. Mittlerweile hat sie sich zum festen Bestandteil der Ausbildungslandschaft von Weissach bis Bondorf etabliert. Das Schönaicher Patenmodell ist klein, ursprünglich und nur wenig rosarot.
In Schönaich sprechen sie nicht von „Matching“ oder „Coaching“ oder „Corporate Social Responsibility“. Hier kennt man sich, die Paten duzen die Chefs der ansässigen Unternehmen, die Jugendreferenten kennen die Bürgermeister persönlich, die Lehrer die Jugendreferenten, die Eltern die Paten. „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“, sagt Arnold. Und in diesem Dorf gebe es eben Menschen mit unterschiedlichen Kompetenzen. „Und die muss man nutzen.“
Wer weiß schon mit fünfzehn, was er sein Leben lang macht?
„Rock your Life“ kümmert sich momentan vor allem um Hauptschüler, weil das Problem da am offensichtlichsten ist, sagt Schabernak. Viele kennen sich zu wenig aus im Dschungel all der Ausbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten, wissen nicht, wie viele Ausbildungsberufe es gibt. Aber das ist auch nicht so einfach bei Tausenden von Angeboten von der Altenpflegehelferin bis zum Zupfinstrumentenmacher. Und welcher Schüler kann schon mit fünfzehn allein entscheiden, was er sein Leben lang machen möchte?
Dass die Suche nach einem Arbeitsplatz und die Orientierung in unserer Gesellschaft nicht nur ein Hauptschulproblem ist, zeigt die Münchner Initiative „Die Komplizen“, die sich auf die Begleitung von Gymnasiasten spezialisiert hat. Sie sind das Vorbild der Friedrichshafener Organisation, gleichfalls durch Sponsoren finanziert und ebenfalls ein Franchiseunternehmen.
Die Komplizen wollen „befähigen“, sagt ihr Gründer Philip Scherenberg. „Die Schüler sind oft uninspiriert.“ Vor allem Gymnasiasten, die noch ein paar Jahre Studium vor sich haben, bis es endgültig ernst wird. „Denen muss man zeigen, hey, hier kommt die tollste Zeit deines Lebens, du kannst frei wählen, zum ersten Mal.“
Die Komplizen möchten vermitteln, was Erwachsensein bedeutet, was ein Beruf bedeutet. Wenn einer ein berühmter Sänger werden will, organisieren die Komplizen einen Musiker als Paten, der seinem Patenkind die guten und die schlechten Seiten dieses Berufs zeigt und vor allem, dass der Traum vom Musiker nicht immer ein Traum sein muss. Und weil ein Musiker auch alle brancheninternen anderen Jobs kennt, kommt vielleicht ein Praktikum bei einem Bühnentechniker dabei heraus. „Empowerment“ nennt es Scherenberg. Uninspirierten Schülern aktiv bei der Entscheidung im Dschungel all der Möglichkeiten zu helfen.
Das fällt selbst Studenten manchmal schwer. Als Stefan Schabernak sein Patenkind das erste Mal traf, fragte er den Schüler, was er mal werden wolle. Sein Patenkind stellte dieselbe Frage zurück, und Schabernak wusste keine Antwort. „Da ist mir mal aufgefallen, dass ich selbst noch nicht so fest im Leben stehe“, sagt er.
Elif Eköz dagegen weiß, was sie will. Einmal erfolgreich sein. Johanna Rahn hilft ihr beim Start in ihre Karriere. Seit Elif Eköz in ihr Leben getreten ist, sei sie manchmal ganz unruhig. „Man fiebert halt mit“, sagt sie. „Das ist wie einen Fuß in einer anderen Welt zu haben.“