: Das Ende einer Künstleroase
Totnes in South Devon ist die alternative Hauptstadt Großbritanniens im Hippielook. Am dortigen Dartington College of Arts werden die besten Künstler Großbritanniens ausgebildet. Doch jetzt soll das College Dartington verlassen
Dartington gilt als Zufluchtsort für verfolgte jüdische Künstler aus Deutschland zur Zeit der Nationalsozialisten. Der Tänzer und Choreograf Kurt Jooss, Lehrer an der Folkwangschule in Essen, entkam der SS mit seiner gesamten Tanztruppe, dem Jooss-Ballett, um nur 18 Stunden, nachdem er aufgefordert worden war, seine engsten jüdischen Mitarbeiter zu entlassen. Martin Tschechow hatte sich aufgrund seiner „Don Quixote“-Inszenierung mit dem sowjetischen Regime überworfen. In Dartington unterrichtete Tschechow Schauspiel, in radebrechendem Englisch; so ist aus seinem Unterricht zum Beispiel die Stilblüte „Now we will play with our balls“ überliefert, womit Tschechow Ballspiele und nicht die Hoden meinte. www.savedartingtoncollege.org
VON ANNELI KLOSTERMEIER
Das britische Hippie-Städtchen Totnes in South Devon (neben der Grafschaft Cornwall) in der Gemeinde Dartington ist so idyllisch, that it’s almost too much. Schon die Zugfahrt von London bietet fabelhafte Ausblicke auf flauschig weiches, vom warmen Golfstrom verwöhntes Hügelgrün und eine spektakuläre Gleisführung haarscharf am Meer entlang, der sogenannten English Riviera. 66 Bürgerhäuser in der von jeher wohlhabenden, am River Dart gelegenen Stadt sind vor 1700 gebaut, haben niedrige, bunt angemalte Türen, schiefe Fenster und verwinkelte Dächer. In der steilen High Street und den wegen ihrer Enge als „Narrows“ bezeichneten Gässchen reihen sich zahlreiche Bioläden, New Age Shops und veganische Restaurants aneinander. McDonald’s, Starbucks oder ein Kino sucht man in der „alternativen Hauptstadt Großbritanniens“ (Time Magazine) zwischen Plymouth, Exeter und Dartmoor vergeblich.
Totnes’ Bevölkerung ist well-off – der wollene, bunte Hippielook und das speziell in Totnes angefertigte, entenfußartige Schuhwerk namens Conkers sind nicht billig – ganz zu schweigen von den Mieten, die schon fast an die Miethöhe Londons heranreichen. Die Totnesians bestehen aus Müttern, Psychotherapeuten, Surfern, Musikern, Schauspielern, Instrumentenbauern, Homöopathen, Magic-Mushroom-Suchern, Buddhisten, Kiffern, Tree-Huggern, Rudolf-Steiner-Schülern und Umweltschützern, die auf ihrer Suche nach einem komfortablen, aber alternativen Lebensstil in dörflicher und trotzdem toleranter Atmosphäre in Totnes gelandet sind.
Einzigartig wird Totnes, das schon 1965 von den Ranking-wütigen Briten zu einer der Top-40-Towns Großbritanniens gekürt wurde und sich laut British Airways Magazine heute zu den Top 10 of the world’s funkiest towns gemausert hat, jedoch vor allem durch die postmodernen Kunst-, Literatur, Musik-, und Theaterstudierenden des seit 1961 bestehenden Dartington College of Arts. Nun nach über 40 Jahren droht dem vielfach preisgekrönten, kleinsten auf Kunst spezialisierten, unabhängigen College Großbritanniens das Aus: der Dartington Hall Trust, der den Grund an das College vermietete, möchte die Performance-Hippies loswerden, um stattdessen an gleicher Stelle eine elitäre, private Musikeinrichtung ins Leben zu rufen. Von dem international bekannten Namen, Dartington College of Arts, und den in den letzten Jahren vom College mit 5 Millionen Pfund einzigartig ausgerüsteten Tanz-, Theater und Multimediastudios will der Trust jedoch weiterhin profitieren.
Das College selbst soll, so der heutige Stand, spätestens zum Jahreswechsel 2009/2010 ins fast sechs Autostunden von London entfernte Falmouth in Cornwall umziehen – ein Umzug ins Abseits. Jedenfalls wollen dorthin die meisten in Totnes ansässigen Kunstprofessoren und die häufig in London tätigen, unterrichtenden Künstler – nach eigener Aussage – nicht folgen.
Dieser unerwartete, nur durch ein Leck in der Presse bekannt gewordene Rauswurf wird offiziell damit begründet, dass die noch aus den 60er-Jahren stammenden, renovierungsbedürftigen Studentenwohnheime auf dem Trust-Gelände ein Schandfleck für die Gemeinde seien, der Touristen abschrecke.
Die Vertreibung des finanziell soliden und bei Bewerbern überaus beliebten Colleges finden die Bewohner, Studierenden und Professoren deshalb so skandalös, weil Dartington als Künstleroase in Großbritannien über eine lange Tradition verfügt, ja geradezu ein Mythos ist. In den 1930er-Jahren kauften die amerikanische Millionenerbin Dorothy und ihr britischer Mann Leonard Elmhirst den idyllisch auf einem Hügel am River Dart gelegenen Dartington Estate. Sie hatten die Utopie, hier einen Ort zu schaffen, an dem Jung und Alt aus aller Welt miteinander leben, lernen und künstlerisch arbeiten können.
Vieles, was die Elmhirsts damals schufen, hat bis heute Bestand: zum Beispiel eine Scheune aus dem 14. Jahrhundert, „the Barn“, die die Elmhirsts von Bauhaus-Gründer Walter Gropius zum Theater umbauen ließen, oder die einzigartigen Gärten, die Dorothy anlegte mit einer 2.000 Jahre alten Eibe und Skulpturen des britischen Bildhauers Henry Moore. Und auch der Geist der Gründer lebte im College weiter. Von den Elmhirsts als „radikalste Schule der Welt“ gegründet – Leonard hatte als Schüler schlechte Erfahrungen auf den berüchtigt strengen englischen Internaten gemacht – ist das kleine, nur zwischen 500 und 600 Studenten zählende Kunstcollege auch heute noch weltweit einmalig. Damals wie heute rief der auf Selbstbestimmung, Kreativität und Teamwork basierende Unterrichtsstil auch negative Reaktionen überforderter Jungkünstler hervor. So wird folgender Ausspruch einer Schülerin Dartingtons aus den 30er-Jahren überliefert: „Oh dear, do we have to do what I want to do all over again?“ Das College bildet seine Studierenden zu eigenständigen Künstlern aus, die vom Straßentheater über Workshop-Führung bis zur Projektfinanzierung alles selbst machen können.
Dartington beschäftigt namhafte Lehrer der postmodernen Performance-Szene, oft selbst ehemalige Studierende des Colleges, wie zum Beispiel Forced Entertainment, Desperate Optimists, Theatre de Complicité und Goat Island. Alles Künstler, die man auch in Deutschland von Veranstaltungsorten wie Kampnagel in Hamburg oder dem HAU in Berlin kennt. Die „Ehemaligen“, viele von ihnen heute unter anderem bei BBC angestellt, Autoren und Musiker, sendeten Solidaritätsbekundungen, schrieben an Tony Blair und kamen zum „Save Dartington College Day“, einer Demonstration, an der rund tausend Menschen in Totnes teilnahmen. Sogar der britische Theaterregisseur Peter Brook, der zu den wichtigsten Vertretern des zeitgenössischen europäischen Theaters gehört und der mit einem der Musikprofessoren Dartingtons befreundet ist, sandte ein Protestschreiben aus Paris. Der Herzog von Somerset bot zudem an, die Studentenwohnheime auf seine Kosten zu renovieren. Erfolglos.
Dartington und der dort herrschende freie Geist in paradiesischer Landschaft hat schon immer Künstlerpersönlichkeiten aus aller Welt und allen künstlerischen Bereichen angezogen. In den 30er-Jahren waren das neben Walter Gropius und Henry Moore etwa die Komponisten Benjamin Britten, Igor Strawinsky und John Cage, der Dramatiker George Bernard Shaw, der Bildhauer Willi Soukop und der Regisseur Martin Tschechow, Neffe des Dramatikers Anton Tschechow. Heute werden dort Moderner Tanz, Devised Theatre und Neue Musik spartenübergreifend und mit internationalen Tutoren unterrichtet. Das Fach Visual Performance – Installationen, Videokunst, Performances – gilt neben der Ausbildung am Londoner Goldsmiths College als innovativste Talentschmiede Großbritanniens.
Die erst seit zwei Jahren amtierenden Vorsitzenden des Dartington Hall Trust, keiner von ihnen wohnhaft in Totnes, haben aber wohl einen anderen Geschmack in Sachen Kunst und Künstler. Die jährliche MusicSummer School, die auf ihrem Gelände stattfindet, wenn das College Semesterferien hat, zieht klassische Violinvirtuosen aus Japan und manchmal als Besucher sogar Prince Charles an.
4 bis 6 Millionen britische Pfund Umsatz, an die 700 junge Menschen und viele Arbeitsplätze wird Totnes und Umgebung durch den Wegzug des Colleges verlieren. Das haben das Devon County Council und Totnes Town Council, Geschäftsinhaber, Anwohner und Barbesitzer in Totnes ausgerechnet, die über die Umzugspläne entsetzt sind. Auch die Studierenden und die Leitung des Colleges sind zum ersten Mal in der Geschichte gespalten. Dem seit gerade mal zwei Jahren berufenen Chef des Colleges, Professor Andrew Brewerton, ein Spezialist in Glaskunst, wird von Kollegen und Studierenden der Vorwurf gemacht, mit dem Trust gemeinsame Sache zu machen und das College verraten zu haben. Besonders empört hat die Studentenschaft, dass dem am längsten am College unterrichtenden Dozenten, Sam Richards, wegen einer kritischen Satire zur Situation fristlos gekündigt worden ist.
Anstatt wie sonst auf den Hügeln im hohen Gras zu liegen – mit ihren Rastahaaren und bunt leuchtenden Wollpullovern – und einem Dartmoor-Schaf Didgeridoo vorzuspielen oder ein Happy Poem zu verfassen, campieren die Studierenden nun aus Protest vor dem Zimmer von Professor Brewerton, der über die Körper seiner Zöglinge steigen muss, um ins Freie zu gelangen. Die Studierenden, die all die Jahre auch immer wieder einen Mangel an Außenwelt, an Reibung mit der Realität beklagt haben, stehen jetzt, da ihr Idyll im Begriff ist zu zerbrechen, fassungslos vor neuen Realitäten.
Doch aktuell sieht es so aus, als würde aller Protest nichts nützen und als müssten bald wirklich alle Studierenden Dartington College verlassen. Ob sich Leonard, der einst behauptete,Totnes habe mehr schöne Frauen pro Quadratmeter als irgendwo sonst in der Welt, und seine Frau Dorothy nun, wo ein historisches Kapitel zu Ende geht, im Grab umdrehen, kann nur vermutet werden.