: Die Abkratzer
Seit Jahren gibt es einen ganzen Haufen Bahnhofsgegner. Sie sind laut, bisweilen nervend und ziemlich sichtbar, und man könnte meinen, es gebe nur sie. Aber wenn man ganz genau hinschaut, findet man in Stuttgart auch ein paar versprengte Menschen, die kurz vor dem Volksentscheid auch Werbung machen für den Tiefbahnhof in Stuttgart. Und außerdem unverdrossen Aufkleber der Gegner abkratzen
von Anna Hunger
Die Anti-S-21-Aufkleber der Bahnhofsgegner hätten eine spezielle Klebstoffkomponente, sagt einer. „Bei UV-Licht werden die steinhart und gehen in hundert Jahren nicht mehr ab.“ Womöglich müsse man dann die ganzen Straßenschilder in Stuttgart auswechseln, nur weil so ein Haufen Spinner flächendeckend ihre Aufkleber über die Stadt verteilten, als wären es Postwurfsendungen.
Es ist Montag, Abkratztag. Seit einem Jahr entfernt die „Interessengemeinschaft Bürger“ Anti-S-21-Aufkleber von Straßenschildern und Laternenmasten in Stuttgarts Straßen. Es sind durchschnittlich fünf bis zehn Abkratzer dabei, manche mit Leitern unterm Arm, damit man auch rankommt an all die Sticker. Einer der Bürger hat schon einen fußballgroßen Knäuel zu Hause, weil er die Kleber wie Trophäen sammelt.
Die S-21-Befürworter finden, das Abkratzen passe bestens zur Montagsdemo: „Auf dem Hinweg kleben die alles voll. Wir machen die Stadt dann wieder sauber“, sagt Christian Bleicher, der stellvertretende Vorsitzende der IG Bürger. Heute haben sie sich medienwirksam mit Tanja Gönner verabredet. Die habe man vor einem Jahr schon mal eingeladen, und seitdem sage sie, sie komme mal mit, wenn sie Zeit fände. So kurz vor der Volksabstimmung und kurz vor der Kampagnen-Schlacht hat sie welche.
Christian Bleicher ist an diesem Montag noch mit der Jungen Union im Landtag verabredet, um ihr seine Pro-S-21-Kampagnenschilder vorzustellen, die die Bahnhofsbefürworter in Baden-Württemberg davon überzeugen sollen, ganz gegen ihre Überzeugung auf ihrem Zettel zur Volksabstimmung „Nein“ anzukreuzen, anstatt das gewohnte „Ja“ zu proklamieren. Immerhin geht es um ein Nein oder Ja zum sogenannten Ausstiegsgesetz des Landes aus dem Bauprojekt S 21.
Nach einem etwas holprigen Auftakt starten nun auch die S-21-Befürworter ihre Kampagne. Eigentlich wollte sich die Landes-SPD mit der Landes-CDU zu einem Bündnis zusammenschließen. Aber wenn sich der Koalitionspartner mit der Opposition zusammenfindet, dann ist das Sprengstoff für die neue grün-rote Regierung. Deshalb wird nun auf kommunaler und Bürgerebene wahlgekämpft. CDU-Ortsverbände tragen die Infos zum Nein mit Infoständen und Vorträgen auf die Dörfer hinaus, die IG Bürger plakatiert, „Pro Stuttgart 21“ auch.
Der S-21-Befürworter-Dachverband „Wir sind Stuttgart 21“ wird Postkarten drucken, die Aktionsgemeinschaft für S 21 wird wieder Anzeigen in Zeitungen schalten, der Verband Region Stuttgart, ein Projektpartner, wird sogar eine Million Euro für seine Nein-Kampagne ausgeben. Und natürlich informiert nach wie vor das Infomobil des Kommunikationsbüros für S 21 – mit Filmen, Flyern und Ansteckern, auf denen kleine Herzen zu sehen sind.
Susanne Wetterich ist die Sprecherin von „Wir sind Stuttgart 21“, einer Gruppierung, von der sich Christian Bleicher von der IG Bürger nicht sicher ist, ob es sie in dieser Form und außerhalb der Homepage (wirsindstuttgart21.de) noch gibt. Wetterich, die frühere Sprecherin von OB Wolfgang Schuster, sitzt in ihrem Kommunikationsbüro im Stuttgarter Westen bei einer Tasse Tee. Sie ist fast so etwas wie das Pendant von Parkschützersprecher Matthias von Herrmann, obwohl sie diesen Vergleich nicht leiden kann.
„Weiter ärgern oder fertig bauen?“
Die Pro-Kampagne des Bündnisses sei nicht ganz so gut organisiert wie der Protest, gibt sie zu. Ob ihnen das Herz fehlt, die Leidenschaft? Wetterich lacht. Die Pressearbeit mache sie „mit dem kleinen Finger“, sagt sie. Ehrenamtlich, nebenher, sie habe ja auch noch einen Beruf, der Zeit fordere. Eher liege es an der mangelnden Finanzierung. Die Gegner hätten ja immerhin den BUND, der eine Menge Geld in die Organisation pumpe. Die Befürworter haben die „Unternehmer für S 21“ und eine breite Rückendeckung der Kommunalpolitik, aber die scheint zumindest für das Pro-Aktionsbündnis nur wenig Finanzmittel übrig zu haben.
Bleibt der Gedanke, dieser wenig leidenschaftliche Pro-Protest könnte Kalkül sein. Denn wenn keiner zur Volksabstimmung geht, wird auch das Quorum nicht erfüllt und dieser ganze Volksentscheid kippt hintenüber.
Zu „Wir sind Stuttgart 21“ gehört auch die Gruppe Pro Stuttgart 21, die die Stuttgarter Straßen mit orangefarbenen Textplakaten zukleben wird. „Weiter ärgern oder fertig bauen?“, wird da gefragt, oder: „1,5 Milliarden für den Ausstieg verschwenden?“
Das Hoffen auf die schweigende Mehrheit
Zumindest im Internet haben diese Plakate schon für reichlich Diskussionsstoff gesorgt. Meint einer, es handle sich hier um eine demokratiefeindliche Aktion, weil nur unten in der Ecke der Plakate – winzig – der Initiator Pro Stuttgart 21 genannt werde, finden andere, die Kampagne treffe genau den Nagel auf den Kopf – ohne auf den Populismus der S-21-Gegner zurückzugreifen, der sich auf den Wasserwerfereinsatz vom 30. September 2010 stütze. Der Schreiber rät denn auch den S-21-Gegnern, möglichst zackig eine Gegenoffensive zu starten. Sonst habe die Pro-Kampagne womöglich noch Erfolg.
Zu textlastig findet Christian Bleicher von der IG Bürger die Plakate seiner Mitstreiter. Deshalb hat die IG eigene Plakate entworfen. Momentan lehnen die Schilder noch an einem Baum vor dem I-Punkt in der Stuttgarter Königstraße. Ihr Vorteil: die Optik, findet Bleicher. Müsse man die Pro-Stuttgart-21-Plakate richtig lesen, reiche hier schon ein Blick. „Zumindest beim dritten Plakat bleibt man stehen“, ist Bleicher überzeugt und hat damit vermutlich sogar recht.
Die Schilder sind rot, zeigen eine Frau mit etwas künstlichem Gesicht, die konsterniert durch dicke Brillengläser linst und sich mit einem Finger gegen den Kopf tippt, oder einen Mann, auch mit Brille, auch mit einem tippenden Finger. „Randale statt Demokratie?“, steht unter dem Stirntipper. Bleicher setzt auf Emotionen.
Susanne Wetterich rührt in ihrer Teetasse. Man müsse eine schweigende Mehrheit motivieren, hinter dem Ofen hervorzukriechen und ein Kreuzchen bei „Nein“ zu machen, sagt sie. Für ein Projekt zu stimmen sei aber sehr viel schwieriger als dagegen. Vielleicht kommt den Freunden des Tiefbahnhofs deshalb das „Nein“ für ein „Ja“ sogar zupass.