BENJAMIN’SCHER FLANEUR : Bierflaschenhalter
Seit dem mich jemand als einen „Walter Benjamin’schen Flaneur“ bezeichnet hat, bin ich etwas gehemmt, denn meine Kontrollgänge durch das Viertel sind ganz profan, außerdem geht ein richtiger Flaneur mit einer Schildkröte an der Leine spazieren, während ich es meistens recht eilig habe. Ich wüsste gar nicht, wo ich so eine Schildkröte herkriegen sollte. Ich meine eine Galapagos-Schildkröte, die auffällt, denn sonst denken die Leute nur „Steht halt ein Mann rum“, weil sie die Schildkröte gar nicht sehen, oder sie denken, wenn sie die Schildkröte doch sehen: „Was macht denn die Schildkröte auf der Straße?“
Ich versuche mich trotzdem mal als Walter Benjamin’scher Flaneur. Als Erstes fällt mir auf, dass in einigen Ecken unauffällig Rentner sitzen. Sie bewegen sich nicht, befinden sich aber in Begleitung eines Hackenporsches. Es ist sehr kalt, weshalb ich denke, dass die Rentner ganz schon abgehärtet sind. Die jüngere Generation ist das nicht. Sie ist nicht zu sehen, nicht mal auf der Admiralbrücke, obwohl man dort inzwischen bequem seine Bierflasche in einen Bierflaschenhalter stellen kann. Der Bierflaschenhalter kann mindestens 20 Bierflaschen halten und ist angekettet, damit ihn niemand mitnehmen kann. Er erinnert mich an den Flaschentrockner von Duchamp, aber zu dieser Berühmtheit wird es der Bierflaschenhalter wohl nicht bringen.
Am Kanal treffe ich doch noch einen aus der jüngeren Generation. Er trägt Bart und lange Haare und ist ebenfalls unauffällig, bis er auf einmal anfängt, wild mit den Armen zu rudern und tänzelnde Schritte zu machen, wobei beide Bewegungen eher disharmonisch sind. Mit einer Schildkröte hätte ich mir das jetzt genau angucken können, ohne dass es aufgefallen wäre, so aber will ich nicht einfach stehen bleiben und den Mann anglotzen, der dann wahrscheinlich denken würde, ich hätte sie nicht mehr alle. KLAUS BITTERMANN