Diese Verstrickung ist hochsensibel für die gesamte Gesellschaft

NSU (2) Nach den Neonazi-Morden ist das Vertrauen in die rechtsstaatlichen Institutionen eminent erschüttert. Wie wollen wir jetzt über Integration reden?

Was ist es, das uns als Staatsbürger funktionieren lässt? Was bringt uns dazu, die Gesetze einzuhalten, unsere Steuern zu zahlen und – zumindest teilweise – die Straßenverkehrsordnung?

Selbstverständlich – es gibt Strafdrohungen. Aber das allein reicht nicht aus. Das ist ein rein äußerliches Verhältnis. Dann gibt es noch die moralische Vorstellung des Gemeinwohls. Aber diese braucht schon emphatische Nationenerzählungen, um den Einzelnen wirklich zu berühren. Auch die heruntergebrochene Version des Gemeinwohls, die Vorstellung einer rationalen Ordnung, reicht nicht aus, um die Menschen als demokratische Subjekte in Bewegung zu setzen. Eine Demokratie kann nur dann eine stabile Ordnung sein, wenn sie den Einzelnen persönlich betrifft. Die Demokratie braucht unser Eigeninteresse und das ist, entgegen einer verbreiteten Meinung, nie rein zweckrational.

Unser Eigeninteresse ist vielmehr immer auch emotional – ein emotionaler Bezug zur Gesellschaft. Damit ist nicht der Glaube an demokratische Ideale und unteilbare Werte gemeint; so ein Glaube allein wäre zu abstrakt, um den Einzelnen zu berühren. Wir sind erst dann wirklich persönlich involviert, wenn es einen Handel zwischen demokratischem Subjekt und demokratischen Institutionen gibt: Ich beschränke mich freiwillig, wenn ich dafür etwas bekomme – das Gefühl von Sicherheit, das Gefühl von relativer Freiheit, Gleichheit, Schutz.

Für diesen emotionalen Tauschhandel braucht es aber die Garantie, dass die Institutionen, vor allem jene, die legalen Zugang zur Gewalt haben, wie die Polizei, und jene, die Gefahren abwehren sollen, wie der Verfassungsschutz, tatsächlich demokratisch funktionieren.

Debakel für die Demokratie

Was aber, wenn der Verfassungsschutz nicht die Verfassung, sondern Rechtsextremisten zu schützen scheint? Wenn Geheimdienstler in Verdacht geraten, mit Neonazis zu kooperieren? Wenn die parlamentarische Kontrolle des Geheimdienstes von Thüringen „nahezu unmöglich war“, wie man in der Zeitung lesen konnte? Das ist nicht einfach irgendeine Fehlfunktion. Wenn die NPD eine Unterabteilung des Verfassungsschutzes zu sein scheint und die Grenzen, wer da nun wen informiert und unterstützt, immer mehr verschwimmen, wenn der Verfassungsschutz eine zwielichtige Rolle bei den Terrorakten des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ gespielt hat (auch wenn man die Verstrickungen noch nicht genau kennt), so ist all das hochsensibel für die gesamte Gesellschaft.

Denn damit hört der rechte Terror auf, ein Randphänomen zu sein. Er ist nicht mehr die Sache einzelner Verirrter (was angesichts der Toten schon schlimm genug wäre). Da ist eine ganze Institution grundlegend in Frage gestellt. Das ist ein Debakel für eine Demokratie. Das wird nicht durch ein paar organisatorische Umstrukturierungen zu lösen sein. Denn die Störung des emotionalen Tauschhandels, die Erschütterung des Vertrauens in den Rechtsstaat hat nicht nur realpolitische Auswirkungen, das ist bereits eine eminente realpolitische Auswirkung.

Und wie wollen wir nunmehr über Integration sprechen? Hat man diesen Diskurs nicht so geführt, dass Migranten Rechte hätten, aber auch (und vor allem) Pflichten? Wie kann man nun von ihnen Bekenntnisse zum Grundgesetz fordern? Wie ihnen den emotionalen Austausch mit demokratischen Institutionen abverlangen? Denn es gibt nicht nur Gruppen, für die sie Freiwild sind, es gibt auch rechtsstaatliche Institutionen, die solches zulassen oder vielleicht sogar unterstützen.

Wie tief dieser Sumpf ist, zeigt sich, wenn ein ehemaliger Neonazi bei Günther Jauch erzählt, sie hätten die Ausländer mit dem guten Gefühl geprügelt, „dass der Großteil der Menschen so denkt wie wir“. Und wenn dieser meint, die Polizisten hätten sie vor Razzien gewarnt, denn „die fanden das wohl ganz in Ordnung, was wir da machten“, dann brennt der demokratische Hut. Statt entgleisende „Volksstimmungen“ zu befördern, gilt es jetzt, entgleisende Institutionen in die Schranken zu weisen. Ein paar administrative Veränderungen werden nicht ausreichen. ISOLDE CHARIM