: Suchendes Hinsehen
SERIE „Looking“ zeigt schwules Leben in San Francisco, ohne die großen Themen Aids, Diskriminierung und Coming-out. Aus der Community erntet die Produktion viel Kritik. Doch die macht es sich zu einfach
VON JAN KÜNEMUND
Patrick und sein Liebhaber Riechie stehen auf den Klippen von Ocean Beach und schauen über den Pazifik. Am Ende eines gemeinsam verbrachten Tages imaginieren sie San Francisco als Stadt, in der die wegen ihrer sexuellen Orientierung vom Dienst suspendierten Navy-Soldaten des Zweiten Weltkriegs eine neue Heimat gefunden haben. Damit sind sowohl die historischen Ursprünge wie auch die visuellen Reize der Schwulenszene der Stadt in der HBO-Serie „Looking“ markiert: als viel beschworenes „gay mecca“ Kaliforniens voller Verheißungen eines selbstbestimmten Lebens. San Francisco ist der Schauplatz, an dem die Serie die Bestandsaufnahme heutigen schwulen Lebens wagt, indem sie den relativ undramatisch verlaufenden Wegen dreier schwuler Männer folgt. „Looking“ durchmisst diesen Schauplatz wie eine vierte Hauptfigur: als Speicher queerer Träume und Tragödien und als reizdichter Spielplatz, auf dem das suchende Hinsehen („Looking“), das immer auch einen Modus sexueller Erregung meint, alltägliche Disziplin ist.
Als HBO im Oktober 2013 eine neue queere Dramedy ankündigte, war die Aufregung groß. Es gab nur wenig Vorläufer für ein solches Projekt, das als viel zu nischig für ein Massenmedium gilt: „Queer as Folk“, „The L Word“ und die Sitcom „The New Normal“, die aber von Fox nach einer Staffel begraben wurde.
Von HBO versprach sich die Zielgruppe größeren Mut und wurde bestätigt: Trotz geringer Einschaltquoten wurde „Looking“ für eine zweite Staffel verlängert, die aktuell in den USA zu sehen ist. In Deutschland lief die erste Staffel im Herbst bei Sky Atlantic, nun ist sie auf DVD erschienen.
Doch noch bevor die Pilotfolge überhaupt ausgestrahlt wurde, gab es schon Kritik aus der LGBTQ-Perspektive: Der Blogger Justin Huang warf dem produzierenden Sender in der Huffington Post ein „Weißwaschen“ der kulturellen Diversität der queeren Szene vor. Huang nahm an, das Personal der Serie bestünde ausschließlich aus weißen Männern. Dieser Vorwurf verschwand auch dann nicht, als deutlich wurde, dass „Looking“ mit seinen Figuren so divers ist wie kaum eine andere Serie.
Es geht um Patrick, einen weißen Videospiele-Designer, Augustín, seinen Freund aus College-Zeiten, Sohn kubanischer Eltern, und den etwa zehn Jahre älteren Kellner Dom. Patricks Love-Interest der ersten Episode, Richie, hat einen mexikanischen Arbeiterklassen-Hintergrund. Vorwürfe von racism, classicm und agism laufen also ins Leere.
Dass sie trotzdem beim „suchenden Hinsehen“ auf „Looking“ eine Rolle spielen, dass immer wieder die Erwartung deutlich wird, das eigene Leben müsse in der einzigen Schwulenserie mit erzählt werden, sagt mehr über das Medienverhalten der LGBTQ-Szene aus als über die Minderheitenpolitik des Senders.
Es ist 2015, die Szene hat sich ausdifferenziert. Die stolze Umformulierung der schwulen Identität, der Aufbau einer Szene-Infrastruktur, die Lobbyarbeit für die eigene Sache sind zwar als Erzählungen der gay liberation noch präsent, doch ist im gleichen Maße das Bewusstsein für die „Gemachtheit“ dieser Identitäten gewachsen: Das „Wir“ ist das Ergebnis von Vereinheitlichung und Ausschluss – und vollständig repräsentiert fühlt sich dadurch kaum noch jemand. Wer 2015 noch behauptet, er könne „die Szene“ abbilden, der irrt. Im LGBTQ-Wunschkatalog wird jede Figur daran abgeglichen, ob sie den aktuellen Diversitätsansprüchen entspricht: Bei „Looking“ fehlen zum Beispiel weibliche, vor allem lesbische Figuren, so die Kritiker. Die Nacktszenen seien prüde, die Figuren zu anschlussfähig für den bürgerlichen Mainstream. „Looking“ präsentiere einen neuen „Homonormativismus“ und beteilige sich an der Gentrifizierung San Franciscos, weil sie den armen, farbigen, queeren Underground nicht zeige. Man merkt: die Kritiker sind im Wesentlichen mit dem beschäftigt, was in „Looking“ nicht zu sehen ist. Was aber ist zu sehen?
Die Serie ist ein Versuch, schwules Leben erzählerisch zu konkretisieren. Patrick, Augustín und Dom sind damit beschäftigt, ihre Sehnsüchte zu verfolgen, ihre immer wieder zerbrechenden Träume neu auszurichten, mit ihren eigenen Vorurteilen umzugehen, die Stadt zu durchmessen, die ihnen ein selbstbestimmtes Leben verspricht. Sie sind keine neoliberalen Selbstverwirklicher, denen das schnell ausgesprochene Hipster-Label passen würde. Sie sind Männer mit Fehlern und Schwächen.
„Looking“ stellt sich mit dem Engagement von Michael Lannan (Regieassistent bei Filmen von Travis Mathews) und Andrew Haigh („Weekend“) in die Reihe aktueller Independent-Filme, die Ben Walters im Guardian als „New Wave Queer Cinema“ bezeichnet hat. Er meinte damit ein sich auf Beobachtung und Detailzeichnung konzentrierendes Kino, in dem die großen Identitätsfragen homosexueller Lebensentwürfe nur noch situativ ins Spiel kommen – als Ablagerungen in Ideen, Körpern und Städten, wo sie sich mit anderen urbanen Erzählfäden verbinden. Vorwürfe gegenüber diesem Kino, es sei unpolitisch, weiß, schwul und Mittelklasse, es würde keine Utopien entwerfen, werden nun auch gegen „Looking“ erhoben. Diese Kritik ist wenig analytisch, da sie kaum mit dem umgeht, was tatsächlich im Bild ist. Vielmehr ist sie eine Art von „Monitoring“‘: In der Erwartung dessen, was gezeigt werden müsste, wird aufgelistet, was fehlt. Einem Kunstwerk wird die Kraft zur Repräsentation abgesprochen, als sei das sein wesentliches Projekt. Dieses Verfahren ist so einfach wie kunstfeindlich. Es spricht daraus eine tiefe Skepsis gegenüber einem visuellen Medium, eine Unlust am Bild, die man allenfalls aus der Erfahrung heraus rechtfertigen könnte, jahrzehntelang entweder unsichtbar gemacht oder mit fremden, „falschen“, Bildern überzeichnet worden zu sein.
Der Raum als Figur
„Looking“ macht demgegenüber das suchende Hinsehen zum Programm, was wiederum einiges mit einer schwulen Aufmerksamkeitspolitik zu tun hat – dem erregten Ausmachen möglicher Sexual- und Lebenspartner auf Datingportalen und im öffentlichen Raum wie dem Sich-zu-erkennen-Geben als Suchender. In den wie improvisiert wirkenden Dialogen von Patrick, Augustín und Dom wird die Ausdrucksunsicherheit und Sehnsucht nach einer passenden Form selbst zum Thema. Auch Körper sind Erzählfiguren: Es ist sehr genau ausgearbeitet, wer in „Looking“ wie mit wem schläft. Die von den Kritikern vermissten Reflexionen über race, class und age laufen in einzelnen, präzise gesetzten Bildern zusammen. Dass Patrick nackt vor einem Spiegel steht und den ihm von Richie um den Hals gelegten Glücksbringer betrachtet, dessen Name und kulturelle Bedeutung ihm fremd sind, ist genauso vielsagend wie der mehrfache Hinweis, dass Patrick als gebildeter weißer US-Großstadtbewohner kein Spanisch spricht.
Während sich die aktuellen großen Filmerzählungen aus dem LGBTQ-Spektrum zwischen „Brokeback Mountain“, „Milk“, „Liberace“ und „Pride“ fast ausschließlich den so gut scharfzustellenden Identitätsfragen der Vergangenheit zuwenden, versucht eine kleine HBO-Serie, alltägliches queeres Leben in all seiner konkreten Unschärfe in den Blick zu bekommen. Das könnte man erst mal würdigen. Vielleicht ist die Kritik daran auch eine an der fehlenden Übersichtlichkeit schwuler Entwürfe: Wenn Diskriminierung, Zensur, Aids und Coming-out als Parameter der Existenz wegfallen – was sind wir dann noch?