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Archiv-Artikel

„Reaktionäre Mythologie“

VORTRAG Im Haus der Wissenschaft vergleicht Gennady Kuznetsov literarische Bilder der Roma

Von BES
Gennady Kuznetsov

■ 51, Musikjournalist und Kulturmanager, leitet den Kultursalon im Schnoor, war in Russland Deutsch- und Englischlehrer.

taz: Herr Kuznetsov, warum lohnt es sich, die Darstellungen von Roma in der deutschen und der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts zu vergleichen?

Gennady Kuznetsov: Weil sie so unterschiedlich sind. Die deutschen Dichter haben keinerlei Kontakt zu ihnen – und erfinden sie als Feindbilder.

Und das ist in Russland anders?

Auf jeden Fall wird in der russischen Literatur der Zigeuner-Kultur – Cygané ist das einzige Wort, das es im Russischen für sie gibt, das ist nicht abwertend gemeint – mit viel Respekt begegnet. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass sie dorthin deutlich später als nach Deutschland gelangt sind.

Wie äußert sich der Respekt in der Dichtung?

Russischen Dichtern spätestens seit Puschkin bis mindestens zu Tolstoij war der Kontakt zu ihr wichtig, sie alle kannten persönlich Roma. Dadurch überwiegen positive Bilder von ihnen.

Na, es gibt auch im deutschen Sprachraum Verklärungen, man denke nur an Franz Liszts enthusiastisches Buch über die Freiheit der Zigeuner-Musik, und von Arnims Isabella ist ja auch eine begehrenswerte Erlöserinnen-Figur …

… die aber das Geschlecht der Zigeuner von einer Vergangenheit erlöst, die von Arnim ihnen wider besseres Wissen einfach unterschiebt – das ist eine total reaktionäre Mythologie, ein erfundenes Bild.

Aber Puschkins „Zigeuner“-Epos ist doch auch nicht wirklichkeitsgetreu …?

Sicher nicht. Das muss es auch nicht als Literatur. Aber es entsteht im Kontakt mit der Wirklichkeit. Man könnte sagen: Die deutschen Dichter kennen die Zigeuner nicht und erfinden sie. Die russischen Dichter kennen Roma – und erfinden sie dann trotzdem.  INTERVIEW: BES

Haus der Wissenschaft, 19 Uhr