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Archiv-Artikel

Samenzelle und Sozialismus

DISKURSTHEATER Im Kreuzberger Theaterraum Vierte Welt werden sozialistische und kapitalistische Konzepte vom Kinderwunsch nebeneinander montiert

Adoption in Haiti, Leihmütter in Weißrussland, Eispende in Kalifornien

Darf eine Frau sich ein gutes Kind wünschen ohne Ehemann? In Sergej Tretjakows Avantgarde-Stück „Ich will ein Kind“ beantwortet die Kulturfunktionärin Milda Grignow diese Frage ganz klar positiv. In der Sowjetunion der 1920er Jahre ist die Verwirklichung dieses Wunsches eine revolutionäre Tat. Ein Kind aus dem Samen eines hundertprozentigen Proletariers und ihrer ideologisch gefestigten Eizelle: Das ist der Neue Mensch! Nach der Geburt wird dieses gute Kind unmittelbar der staatlichen Ganztagskinderbetreuung übergeben. Die Gesellschaft ist der bessere Erzieher als die bürgerliche Kleinfamilie.

Wie fremd diese Haltung wirkt, angesichts des individualisierten Kinderwunschs der Gegenwart, macht der aktuelle Text „sale“ deutlich, den die Theatergruppe Lubricat entwickelt hat. Während Milda für den Kommunismus gebiert, ist eine namenlose Enddreißigerin dort pausenlos auf der Suche nach neuen, künstlichen Befruchtungsmöglichkeiten, um ihrem „Recht auf ein Kind, dem sie mal die Nase putzen kann“, endlich Ausdruck zu verleihen. Die zwei Texte, die zwei Frauen und die zwei Welten des Kinderwunsches werden in einer einstündigen Performance im Kreuzberger Theaterraum „Vierte Welt“ miteinander in Verbindung gesetzt.

Wo sind Überschneidungen, wo sind die Unterschiede? „Zunächst einmal wünschen sich beide Frauen ein Kind und glauben an den technischen Fortschritt. Der gesellschaftliche Kontext könnte aber unterschiedlicher nicht sein“, so Regisseurin Konstanze Schmitt, die Tretjakows Theaterepos, das in der Originalfassung mehrerer Dutzend Darsteller bedarf, intelligent auf den Monolog einer Protagonistin reduziert hat.

Dirk Cieslak von Lubricat ergänzt mit viel Detailwissen, welche Möglichkeiten es in einer globalisierten Welt gibt, die „Ware“ Kind auch ohne die Wege und Umwege der Natur zu erwerben: Adoption in Haiti, Leihmütter in Weißrussland, Eispende in Kalifornien.

„Die entscheidende Frage ist: Was kannst du dir leisten?“ Cieslaks Entrüstung über derartige Entwicklungen ist verständlich, und doch geht sein Konzept, die Gegenwart darzustellen, an vielen Stellen nicht in die Tiefe.

Während Milda, überzeugend verkörpert von Antje Widdra, ein Abbild ihrer Gesellschaft ist und dennoch als Mensch mit seinen Wünschen und Überzeugungen hervortritt, bleibt die Akteurin in „sale“ (Mariel Jana Supka) eine virtuos agierende Aufziehpuppe, die mit ihrem permanenten Geplapper von tiefgefrorenen Eizellen und impotenten Samenzellen eher zum distanzierten Lachen als zum Nachdenken animiert.

Als Zuschauerin im gebärfähigen Alter entdeckt man hier ebenso wenig Gemeinsamkeiten wie bei Tretjakow. Während die sozialistische Utopie fremd ist, aber neugierig macht, ist die kapitalistische schöne neue Welt lediglich Objekt der Satire. Warum aber erscheint Frauen der Wunsch nach einem Kind als einziger Weg zum Glück? Ist die technische Planbarkeit der Reproduktion ohne Männer nicht auch als feministischer Fortschritt zu begreifen? Etwas mehr Zwischentöne hätten an dieser Stelle nicht geschadet.

JESSICA ZELLER

■ Wieder vom 8.– 10. Dezember, 19.–21. und 27. + 28. Januar 2012 in der Vierten Welt