: Das Leben danach
Nach der ungeliebten Volksabstimmung sortiert sich der Protest gegen Stuttgart 21 neu. Die Tiefbahnhofsgegner haben viel gewonnen. Aber sie haben auch viel verloren. Manche den Protestwillen, andere den Glauben an die Menschheit, wieder andere werden ihre Heimat verlieren. Wie geht es weiter mit dem Protest?
von Anna Hunger
Altun Cumali, 61 Jahre alt, Tiefbahnhofsgegner und Protestcamper, wird demnächst sein Zuhause verlieren. Er hat dickes, schwarz-weiß meliertes Haar, einen ebensolchen Vollbart und lebt ein paar Meter vom Planetarium entfernt gegenüber der Zeltstadt im Schlossgarten. Seine Hütte besteht aus alten Ikea-Regalen und Palettenbrettern und sieht fast aus wie ein Gartenhäuschen – mit eingezäunter Terrasse samt Blumenkästen und einem Dach aus Plastikplanen, in denen er Brot und Fleisch versteckt, wenn er welches hat. „Da kommen die Ratten nicht hin“, sagt er.
Cumali hat sein Häuschen direkt neben einen Baum gebaut. Der Baum helfe ihm beim Atmen. Sowieso habe sich sein Gesundheitszustand gebessert, seitdem er Tag und Nacht im Park verbringt. 15 Kilo hat er abgenommen, seinem Blutzuckerspiegel geht es prächtig, sein Arzt sei ganz begeistert, und er selbst habe schon versucht, der Stadt diese paar Quadratmeter abzukaufen, auf denen er mit seiner guten Gesundheit nun seit mehr als einem Jahr lebt. „Die geben das Stückchen natürlich nicht her“, sagt er mit einem sehr wehmütigen Lächeln und saugt an einer Zigarette, die er schon bis zum Filter heruntergeraucht hat.
Seit 1972 lebt der Kurde in Deutschland. Ein ehemaliger Gastarbeiter, der fast dreißig Jahre in der Logistik der Deutschen Bahn gearbeitet hat, heute Rentner mit einer Wohnung in Bad Cannstatt, die er nur noch zum Duschen betritt. Er hat vier Kinder, viele Enkel, alle in Deutschland groß geworden und gewillt, hier auch zu bleiben. Cumali will, dass sie eine gute Zukunft haben, deshalb lebt er hier im Park – mit seinem Elektrorollstuhl, ein paar Stofftieren, einem Campingkocher für den Körnchenkaffee und einer alten Sektschatulle, in der er seine Sammlung von Anti-S-21-Buttons aufbewahrt. Er hat sie fast alle.
Für seine Nachkommen will er eine gute Welt mit einer „echten Demokratie“, sagt er. Aber ein bisschen hat man auch das Gefühl, dass Altun Cumali das Leben im Freien mit der Zeit einfach schätzen gelernt hat. Er genießt seine Freiheit, das Wetter, die Gesellschaft. „Ich werde hierbleiben“, sagt er. „Für immer.“ Der Großteil der baden-württembergischen Bevölkerung, die am 27. November für den Tiefbahnhof und damit auch gegen den Zeltwildwuchs im Schlossgarten votiert hat, ändert nichts an diesem Gedanken. Aber tief im Inneren weiß auch Altun Cumali, dass es eine schöne Zeit war, die demnächst zu Ende geht.
Bisher hat Cumali kaum über diese Möglichkeit nachgedacht, zu weit weg war das Bauprojekt S 21, zu präsent und gewohnt der Protest dagegen. Aber seit zwei Wochen hat sich das geändert. Das Volk hat entschieden, die Landesregierung wird den Tiefbahnhof unterstützen, die Bahn wird bauen, die Protestcamper rausschmeißen und mit ihnen den Kurden samt seiner Bretterbude. Wahrhaben will er das nicht.
Und da geht es ihm wie vielen anderen S-21-Gegnern. Sie konferieren, versichern sich ihrer Loyalität, ihres Willens und Muts, dieses Protestding weiter durchzuziehen. Aber sie haben verloren. Nicht nur die Volksabstimmung, sondern mit einem Schlag auch den Rückhalt der Politik und mit diesem viele Sympathien. Quasi über Nacht ist aus dieser engagierten Gegenbewegung in den Augen vieler ein Haufen Querulanten geworden, die nicht einsehen wollen, dass es nun vorbei sein soll. Natürlich haben sie auch gewonnen, gezeigt, dass Engagement etwas bewegen kann. Aber irgendwie klingt das in diesen Tagen wie ein Trostpflaster.
Protest muss wehtun und Murks bleibt Murks
„Wir waren uns zu sicher, dass dieser Bahnhof nicht kommen wird“, sagt Eberhard Graf, 55, IT-Berater mit sauberem Mantel und polierten Schuhen, Tiefbahnhofsgegner seit dem Bürgerbegehren 2007. „Jetzt müssen wir von unserem hohen Ross runtersteigen und schauen, wie wir dieses Projekt mit unserem Protest begleiten können.“ Eberhard Graf steht im Hof des Stuttgarter Rathauses, in dem sich an diesem Sonntag 720 Stuttgart-21-Gegner zum „großen Ratschlag“ versammelt haben. Die Frage: Wie geht es nun weiter?
Während einem auf dem Rathausplatz der Weihnachtsmarkt eine fast unpassende vorweihnachtliche Besinnlichkeit vor den Latz knallt, herrscht im kleinen Sitzungssaal um kurz nach elf die Tendenz vor, eine Partei zu gründen. Man habe ja nun Parteistärke erreicht, sagt einer. Die Montagsdemos seien zur Gewohnheit für alle verkommen, außerdem ein enervierender Faktor für die, die montagabends grundsätzlich im Stau stünden. Also weniger Demos? „Nein, mehr“, brüllt einer. Leise, wo sie keinen stören? Nein, laut, und so, dass sie die Hauptschlagadern verstopfen, Protest muss wehtun! Oder nicht? „Jedenfalls: Murks bleibt Murks“, ruft ein anderer, und darüber zumindest herrscht Übereinstimmung. „So direkte Demokratie ist echt schwer“, seufzt einer und lässt sich diskussionsmüde auf einen Stuhl plumpsen. „Das müssen wir alle noch lernen.“
Vielleicht aber auch, eine Entscheidung zu akzeptieren. Die Bevölkerung sei aber nunmal kein Verein, in dem die Mehrheit zählt, sagt Graf. Die Volksabstimmung sei mit unfairen Mitteln gelaufen, findet er, und da ist er an diesem Sonntag in guter Gesellschaft. Die Pro-Seite habe mit Angst argumentiert, mit einem irren Batzen ungerechtfertigter Ausstiegskosten, mit sehr viel mehr Geld und vor allem sehr viel mehr Macht. Aber dass es tatsächlich Leute gibt, die nicht zu dem gehören, was man hier den „schwarzen Filz“ nennt, und die trotzdem einen neuen Bahnhof haben wollen, kann hier kaum einer glauben. Die Neinsager seien nicht gut informiert gewesen. Zudem habe man ja nicht über den Bahnhof abgestimmt, sondern über einen Ausstieg des Landes aus der Finanzierung des Projekts. Das sei ein sehr großer Unterschied, sagt Eberhard Graf.
Aber es ist eben doch nur ein sehr kleiner. Wer Nein sagte, stimmte für den neuen Bahnhof, wer Ja sagte, eben nicht. So einfach ist es eigentlich. Irgendwo ein Stückchen Hoffnung hernehmen, einen Grund, nicht aufhören zu müssen, ein Argument, mit dem man alle anderen Argumente zu entkräften versucht. So war es immer, so wird es bleiben. Das war die Stärke dieses Protests, aber das wird auch seine Schwäche werden.
Das Aktionsbündnis pausiert, Geld ist auch kaum noch welches da, die Parkschützer und das Bündnis „Aussteiga“ werden zwischenzeitlich die Demos vor dem Südflügel organisieren, wegen des Verkehrs – nicht mehr für einen Ausstieg wird demonstriert, sondern für die Offenlegung aller Kosten, denn nur so kann das Projekt theoretisch noch gekippt werden. Das ist der Kompromiss. Aber es ist irgendwie ein fauler. Dieser Protest ist trotz aller schiefen Kostenpläne, trotz aller Vermurksung der Stadt nicht mehr der alte, und wenn er nicht aufpasst, wird er in der Ecke landen, in der heute schon die sitzen, die mittlerweile für alles und jeden nur noch Häme und Zynismus übrighaben und denen das vollständig verloren geht, was sie von allen anderen fordern: die Fähigkeit, sich kritisieren zu lassen.
„Wenn sie die Bäume im Park rausreißen, wird Gewalt zum legitimen Mittel“, sagt einer. Ein anderer findet, man müsse nun eine Gruppe gründen, die den Politikern mal zeigt, wo der Hammer hängt. Und das Parkschützerforum im Internet, einst gegründet zum Austausch, quillt an manchen Tagen fast über vor lauter Gift gegen jeden, der nicht der eigenen Meinung ist. Alles Lug, Betrug, Manipulation und Täuschung, so wie die Volksabstimmung ja auch manipuliert sein könnte. Selbst dieser Verdacht ist im Umlauf.
Christine Starzmann, 49, Bürokauffrau mit schwarzem Parkschützerhalstuch, sitzt im Parkschützerbüro, beantwortet E-Mails und telefoniert. Es ist Freitag, kurz bevor der Parkschützerrat tagt, zu dem sie am Abend ausklamüsern werden, dass auch sie mit mindestens der gleichen Vehemenz weitermachen wie gehabt.
Christine Starzmann ist Organisationsmitglied bei Attac, hat die Parkschützer mit aufgebaut und sagt von sich, dieser Bahnhof habe sie radikalisiert. Am Sonntag der Volksabstimmung hat sie geweint und konnte sich auch die zwei Tage danach nicht beruhigen. Mittlerweile hat sie den ersten Schock verdaut. Aufgeben? „Warum? Wir haben doch so viel erreicht“, sagt sie. Viele der Widerständler hätten vor einem Jahr nichts mit dem Wort „Kapitalismuskritik“ anfangen können, „sie waren halt gegen das Fällen der Bäume“. Dieser Protest habe politisiert, aufgerüttelt. Außerdem sei auch aus einer massenhaften Anti-Atom-Bewegung ein steter Tropfen geworden, der den Stein ja langsam ausgehöhlt habe. Und so wird es auch sein mit diesem Protest, in dessen Verlauf immer mehr Menschen gemerkt hätten, dass da was nicht stimmt in unserem System.
Und mit diesem Wissen müsse man nun arbeiten, Räume schaffen für Andersdenkende, Platz für solche, die ins Gespräch kommen wollen, „um der Dummheit Einhalt zu gebieten“. Und der harte Bahnhofsprotest? Der müsse nun anfangen, die Leute wieder abzuholen, sagt Starzmann. Viele seien mittlerweile einfach müde, bräuchten eine Pause, sagt sie. Und all die anderen? Darauf hat auch sie keine Antwort.
Im Zeltcamp ein Leben ohne Besitz und ohne Zwänge
Währenddessen sitzt ein paar hundert Meter weiter Markus Meister im Protestcamp, in dem Dielen und Bretter die Wege markieren, und macht in einem alten Topf Feuer mit Resten von Sperrholzbrettern. Schwarze Wolken wabern aus dem Töpfchen. Früher war er mal Servicefahrer. Er besitzt eine Wohnung, in der er sich mittlerweile beengt fühlt, wenn er sie mal betritt. Dort stehen dutzende Kisten mit „Zeug, das kein Mensch braucht“, sagt er. Sowieso brauche der Mensch kaum etwas, das habe er in diesem Protestcamp gelernt.
Früher hat er ein Taschenmesser besessen, aus gehärtetem Stahl mit allerlei Schnickschnack, erzählt er. „Das hab ich nie mitgenommen, weil ich Angst hatte, ich könnte es verlieren. Es hat ja so viel gekostet.“ Seit er hier in einem Zelt lebt, schnitzt er die Hölzer für das Feuer mit einem Messer, das nicht einmal zehn Euro gekostet hat. Das reicht, sagt er. Und so ist es eigentlich auch mit diesem Bahnhof. „Keiner braucht ihn, aber alle wollen unbedingt eine Menge Geld dafür ausgeben.“ Es klingt resigniert.
Mit dem Protest sei es so, als ob der TSV Reutlingen gegen die Nationalelf angetreten sei – ein ungleicher Kampf. „Aber wenn sie hier ein Milliardengrab wollen, dann sollen sie doch eins graben.“ Wie alle anderen lebt er nun seit mehr als einem Jahr in dieser Zeltstadt, in der sie sich häuslich eingerichtet haben, weil es hier gemütlich ist und weil sie mit der Zeit merkten, dass ein Leben ohne Besitz und fast ohne Zwänge auch eines mit weniger Sorgen sein kann.
Er mache hier politische Arbeit, sagt Markus Meister, er spricht von einem stetigen Verlust an Moral, von übersteigerter Gier all der Investoren und einer wachsenden Herzlosigkeit innerhalb der Menschheit, von verdummenden Fernsehprogrammen, einer verrohten Gesellschaft. „Das alles macht den Menschen kaputt“, sagt er. Er will eine bessere Welt – und S 21 ist dafür ein Exempel. Und wenn diese Zeltstadt geräumt wird und er hier nicht mehr leben kann, dann zieht er eben weiter, sagt Meister. Weg aus dieser Stadt. Irgendwo anders hin, wo diese Lebensform möglich ist.
Gegenüber, etwa hundert Meter Luftlinie, sitzt Altun Cumali auf einem Stuhl und kocht sich Körnchenkaffee. Jeden Tag kommt seine Frau vorbei, bringt frische Wäsche, ab und zu ein paar Lebensmittel, und manchmal fegt sie seine Terrasse, die zwei Quadratmeter vor dieser Hütte. Dann streiten sie, weil seine Frau sich nichts mehr wünscht, als ihren Mann wieder zu Hause zu haben. Dort ist es warm, dort wird er gesund, sagt sie. Aber Cumali wird bleiben, bis sie ihn heraustragen. „Dann werde ich weinen“, sagt er.