Es bleibt in der Familie

FILM Die Reihe „Neues Kino aus Ecuador“ im Arsenal zeigt die Konfliktlinien des Landes in Vergangenheit und Gegenwart auf

Darstellerin Vanessa Alvario strahlt aus jeder Pore so viel mittelständische Sattheit aus, dass man ihr die punkige Straßengöre nicht abnimmt

VON SILVIA HALLENSLEBEN

Eine lange Kamerafahrt von der Eingangstür bis in den Oberstock eines bürgerlichen Einfamilienhauses in Quito. Durch die großen Fenster fällt Licht und Grün, die Wände sind vollgehängt mit Kunst und Erinnerungsstücken. Dann endet die Reise auf den Porträtzeichnungen zweier Teenager. Es sind die beiden älteren Brüder der Filmemacherin María Fernanda Restrepo, die am 8. Januar 1988 unter bis heute nicht geklärten Umständen verschwanden, als sie ihre kleine Schwester von einem Kindergeburtstag abholen sollten. Sicher aber ist, dass die 14- und 17-jährigen Jungen von der ecuadorianischen Geheimpolizei SIC gefoltert und getötet wurden, die wohl wegen des kolumbianischen Namens der immigrierten Familie Verbindungen zur Guerilla unterstellten.

Ein Einschnitt, der die Familie bis heute traumatisiert und sie nur im dauerhaften Kampf um Aufklärung weiterleben lässt, der im Lauf der Jahrzehnte zu einer nationalen Kampagne gegen Polizeiwillkür wuchs. Vater Restrepo demonstriert jeden Mittwoch vor dem Regierungsgebäude in Quito. Und auch Fernanda hat ihre erste große Arbeit als Filmemacherin ganz der Aufarbeitung von Familien- und Nationalgeschichte gewidmet. Und das höchst erfolgreich: Als „Con mi corazón en Yambo“ im Oktober 2011 in Ecuador in die Kinos kam, wurde er zum erfolgreichsten Dokumentarfilm der Kinogeschichte. Und auch politisch konnte er etwas zu bewegen.

Jetzt ist der Film Herzstück eines von Peter B. Schumann in Kooperation mit dem Iberoamerikanischen Institut und der ecuadorianischen Botschaft zusammengestellten Programms, mit dem erstmals in Deutschland die boomende aktuelle Kinoproduktion des 15-Millionen-Einwohner-Landes vorgestellt wird, die seit Etablierung einer nationalen Filmförderung im Jahr 2006 einen unglaublichen Zuwachs von 300 Prozent erlebte. Dabei nimmt der Dokumentarfilm laut Schumann traditionell einen starken Stellenwert ein – ist in dieser Reihe selbst mit drei Arbeiten aber eher unterrepräsentiert. Bemerkenswert neben Fernanda Restrepos Film vor allem eine Arbeit des Dokumentarfilmers Pocho Àlvarez („A cielo abierto: Derechos minados“) aus dem Jahr 2009, der mit den landesweiten Kämpfen gegen ein neues Minengesetz zeigt, dass auch unter der Regierung von Rafael Correa die Erdölförderung im Amazonas-Urwald nicht die einzige Konfliktzone ist.

Auch die Spielfilme bewegen sich nah an der sozialen und politischen Realität, die bei allen Unterschieden bis auf eine Ausnahme im familiären Kontext repräsentiert wird: „Quito 2023“ (Regie: César Izurieta und Juan Fernando Moscoso) ist ein Low-Budget-Breitwand-Sci-Fi-Polit-Kammerspiel, das in opulentem Dekor bei einer klandestinen Truppe in den Katakomben von Quito angesiedelt ist. Dort kämpfen Aufständische im Jahr 2023 gegen einen Diktator, der mit seiner Bewegung für „Vaterland und Ordnung“ im Habitus aus den Zeiten von Pinochet & Co. zu kommen scheint: Einfallsreich arrangiertes und wohlgebildetes Repräsentationskino, das am Ende doch vor allem um das eigene Kunstwollen kreist.

Recht gewöhnliche sozialrealistische Kost bringt mit Viviana Cordero die erfahrenste der präsentierten FilmemacherInnen. „No robaras … (a menos que sea necesario)“ erzählt ein Drama aus dem städtischen Kleinbürgertum, wo eine junge Punkrockerin aus einer Notlage heraus Verantwortung für die ganze Familie übernehmen muss und von ersten scheuen Diebstählen bald zur coolen Gangsterin auf- oder absteigt. Der Film lässt zwar etwas vom urbanen Alltagsleben ahnen, fährt aber auch ein ganzes Panorama sozialer Klischees auf. Hauptdarstellerin Vanessa Alvario strahlt aus jeder Pore so viel mittelständische Sattheit aus, dass man ihr die punkige Straßengöre nicht abnimmt.

Die Affinität zum Punk verbindet Corderos Film mit einer anfangs wahrhaft luxuriös angesiedelten Familiengeschichte: Die Protagonisten von „Mejor no hablar de ciertas cosas“ kommen aus einer schicken Villa, wo der Papa Whiskey aus der Karaffe trinkt, während die beiden Söhne das elterliche Geld großzügig für andere Drogen unters Volk bringen. Dann zersplittert auch diese Familie an einem Akt der Gewalt, die beiden jungen Männer trudeln auf unterschiedliche Art durch diverse Liebschaften und Abhängigkeiten dem Abgrund entgegen. Javier Andrades Film brilliert nicht nur mit der eiskalten Genauigkeit, mit der er die Seil- und Machenschaften der Oberschicht inszeniert. Durch eine kluge Wendung gelingt es ihm auch, diese Geschichte eines Familienverfalls zu einem Blick auf die Funktionsmechanismen einer korrupten politische Klasse zu erweitern. Und der 1978 geborene Regisseur Andrade darf als nicht mehr ganz junge Regiehoffnung mindestens gleichwertig neben Namen wie Carlos Reygadas und Amat Escalante stehen.

■ „Neues Kino aus Ecuador“, Arsenal, noch bis 29. März, Programm: www.arsenal-berlin.de